Rede von Werner D'Inka

Rede zur Verleihung des Ralf-Dahrendorf-Preises für Lokaljournalismus
Freiburg, 17. Juni 2013

In Deutschland geht es üblicherweise höflich zu. Wir halten anderen die Tür auf, wir lassen unser Gegenüber ausreden – es sei denn, wir seien in einer Talkshow –, Verkäuferinnen wünschen einen "Schönen Tag noch" und Radiomoderatoren schon am Freitagmorgen ein "Schönes Wochenende". Für Fußgänger halten wir am Zebrastreifen selbstverständlich an, und als Autofahrer in Freiburg wissen wir, dass Radfahrer Wesen sind, über denen nur noch der blaue Himmel und der liebe Gott kommen.

Zwei Sphären gibt es allerdings, da vergessen viele Mitbürger ihre gute Kinderstube – bei weitem nicht alle, aber eben doch mehr als nur ein paar: im Internet und im Fußballstadion. Natürlich nicht beim SC Freiburg, aber anderswo. Um einen Satz von Helmut Qualtinger abzuwandeln: "Stierkampf, eine matte Sache. Frankfurt gegen Offenbach, das nenn' ich Brutalität!"

Immer mehr vom Diskussionsraum zur Kampfzone wird das Internet. Klar, schlechtes Benehmen gibt es auch im richtigen Leben. Aber wo man seinem Gegenüber ins Gesicht sieht oder seinen Gesprächspartner wenigstens am Telefon hört, gelten doch zivilisatorische Mindeststandards. Die scheinen in der digitalen Welt freilich außer Kraft. Nirgendwo sonst wird so maß- und hemmungslos gepöbelt, gehetzt, beleidigt und gemobbt. Da werden aus Menschen, denen man derlei Enthemmungen nie und nimmer zutraut, im Handumdrehen zu Gestalten, die man nicht mit der Feuerzange anfassen möchte. Warum ist das so? Viele sagen, es liege an der Anonymität des Netzes. Das ist vermutlich ein wichtiger Teil der Erklärung, denn das Internet an sich macht ja aus Gemütsmenschen keine pöbelnden Proleten.

Warum erzähle ich Ihnen das? Nicht deshalb, weil ein alter Mann findet, früher sei alles besser gewesen und das Internet treibe das Abendland in den Untergang. Sondern weil sich in der digitalen Welt ziemlich viel verändert: die Art, wie wir einkaufen, wie wir uns mit anderen austauschen, wie wir uns informieren, welche Vorstellung wir von der Welt da draußen haben. Und damit kommen wir zu den Medien und zum Journalismus als einem Beruf, der in den vergangenen gut hundert Jahren ein Set an professionellen Standards und ein spezifisches Berufsverständnis entwickelt hat.

Darüber möchte ich sprechen, denn dieses Berufsbild wird in Frage gestellt. Die Argumentation geht ungefähr so: Die traditionelle Rolle von Journalisten als den Überbringern von Neuigkeiten überlebt sich, denn was immer irgendwo in der Welt gerade geschieht, kann auf unzähligen Kanälen auch ohne den Umweg über Redaktionsstuben verbreitet und abgerufen werden: Facebook, Twitter, Youtube. Niemand braucht mehr die traditionellen Medien und Journalisten, nur um an eine Information zu kommen. Was am Taksim-Platz in Istanbul geschieht, erfahren wir direkt von den Beteiligten. Genau darin liege das Neue, sagen die Vertreter der digitalen Avantgarde, und es sei eine Befreiung. Roy Greenslade vom "Guardian" hat es einmal so ausgedrückt: Die klassischen Journalisten bilden eine Art Kaste weltlicher Priester, die darüber entscheiden, welche Nachrichten das einfache Volk empfangen dürfe. Demgegenüber sei das Web 2.0 eine digitale Revolution, das diese Priesterkaste hinwegfege und die Informationswelt vom Kopf auf die Füße stelle.

Mit dem Nachrichtenmonopol gerät auch die Meinungsführerschaft der etablierten Medien ins Wanken. Warum? Wer bisher die Weltöffentlichkeit aufrütteln oder seine Mitwelt von seinen Ansichten überzeugen wollte, konnte das allenfalls im Kleinen versuchen: am Stammtisch, im Bekanntenkreis oder als Demonstrant. Eine größere Reichweite hatten nur die Medien. Heute hingegen erreicht jeder, der will, ein Millionenpublikum, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Alles, was uns durch den Kopf geht, können wir auf der Stelle in alle Welt hinausposten, und wir finden Follower von Stockholm bis Sydney.

Ja, die Millionen Internet-Foren und Blogs jenseits der traditionellen Medien machen, weltweit vernetzt, ein enormes Wissen verfügbar. Weil alle alles sagen und alles kommentieren können, entsteht auch eine neue Form der Meinungsvielfalt. An der befreienden Rolle von Facebook beim arabischen Frühling gibt es ja überhaupt keinen Zweifel. Wozu brauchen wir also noch Zeitungen, Zeitschriften, Radio oder Fernsehen? Der von mir sehr geschätzte Stefan Niggemeier hat die neue digitale Welt vor einiger Zeit bei uns in der Zeitung mit bedenkenswerten Argumenten gefeiert. Er schreibt: "In einer Welt ohne Journalisten gingen uns die Neuigkeiten nicht aus. Die Lawblogger würden uns Neuigkeiten aus den Gerichtssälen erzählen, Parteimitglieder über neue Gesetzesentwürfe streiten, Foodblogger neue Restaurants erkunden und chinesische und iranische Blogger uns mit Einblicken in ihr Leben bereichern." Würde uns also wirklich nichts fehlen, wenn es den altmodischen, etablierten Journalismus nicht mehr gäbe? Dazu möchte ich einige Gedanken vortragen und fragen, was eigentlich Journalismus als Beruf und als gesellschaftliche Dienstleistung ausmacht.

Wie befreiend es ist, wenn im Internet "Parteimitglieder über neue Gesetzesentwürfe streiten", um mit Niggemeier zu sprechen, erlebt schmerzlich gerade die Partei, die sich als die Kraft der digitalen Revolution versteht: die Piratenpartei. Einige ihrer klügsten Köpfe haben entnervt und entsetzt aufgegeben, nachdem sie das Ziel von Shitstorms geworden waren, überwiegend entfesselt von ihren eigenen Leuten. Marina Weisband schrieb: "Für jeden Gedanken, den ich äußere, wate ich durch einen zähen Sumpf aus Beschimpfungen und Unterstellungen." Und: "Der offene Politiker hat keine Chance, er wird fertiggemacht. Wenn es ihm nicht scheißegal ist, was ihr von ihm haltet, wird er fertiggemacht. Von euch."

Christoph Lauer, der Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, hat in einem Artikel in der F.A.Z. seinen Rückzug aus Twitter angekündigt, dafür habe er weder die Zeit noch die Nerven. Und Julia Schramm, die als Kandidatin für den Bundesvorstand der Piraten galt, schrieb in der "Süddeutschen Zeitung": "Ein dickes Fell für eine öffentliche Rolle war noch nie so wichtig wie heute. Doch das ist eine gefährliche Entwicklung, die der Gesellschaft auf Dauer schaden wird. Denn wer will öffentliche Verantwortung übernehmen, wenn sie (oder er) dann unter Dauerbeschuss steht und die Menschen ihr Innerstes über ihr (oder ihm) auskippen?"

Nur am Rande: Das erleben nicht nur Politiker. Die "Zeit" hat neulich zusammengestellt, welche Kübel an Niedertracht im Internet öffentlich über Fußballer ausgeleert werden. Das Problem ist nicht, dass sich da einige im Ton vergreifen. Wer hätte nicht selber schon einmal im Stadion "Du Blinder" oder Deftigeres gerufen. Das Problem ist, dass Tausende den "Gefällt-mir"-Knopf drücken, wenn ein Spieler mit dem Satz angepöbelt wird: "Du dummer basdart! Erschieß dich bitte." Und halten Sie das bitte nicht für übertriebene Einzelfälle. Ein Frankfurter Kollege hat mir vor kurzem erzählt, seine Tochter habe sich von Facebook abgemeldet, aus Entsetzen darüber, wie eine Mitschülerin fertiggemacht worden war.

Doch zurück zum Journalismus. Worin besteht nun dessen Aufgabe? Die oberste Maxime heißt nachzuforschen, Fakten zusammenzutragen und sie – ganz wichtig – zu prüfen: auf ihre Herkunft, ihren Realitätsgehalt, auf Plausibilität und Verlässlichkeit, und zwar nicht "mal", sondern Tag für Tag, Nachricht für Nachricht, in einem systematischen Qualitätssicherungsprozess. Das ist zumal unter dem Zeitdruck des Tagesjournalismus keine ganz einfache Sache. In vielen Fällen können wir eben nicht noch ein Buch über das jeweilige Thema zu Rate ziehen oder einen weiteren Experten befragen. Deshalb kommt es manchmal zu Ungenauigkeiten, zu Nachlässigkeiten, zu Fehlern. Sie umgehend in der nächsten Ausgabe zu korrigieren sollte selbstverständlich sein.

Ungerechtfertigt ist aber der häufig Pauschalverdacht, "die" Medien verdrehten immerzu "die" Fakten. Dieser Vorwurf setzt nämlich die Annahme voraus, dass eine "reine", unverfälschte Realität erstens existiere, dass sie zweitens mit den Mitteln des Verstandes erkennbar sei und dass sie drittens mit der Darstellung in den Medien verglichen werden könne, denn nur im Vergleich der angeblichen Wahrheit mit der Mediendarstellung ergäbe der Verzerrungsvorwurf überhaupt einen Sinn. Das wirft freilich ein enormes erkenntnistheoretisches Problem auf, denn wer kann über ein Ereignis schon sagen, "wie es wirklich war"? Wer einmal drei Augenzeugen ein und desselben Verkehrsunfalls befragt hat, weiß, was ich meine. Nicht "Wahrheit" oder originaltreue Abbildung der Realität kann also das Ziel sein, sondern eine von handwerklichen, nicht ideologischen Normen bestimmte "Konstruktion der Realität" durch eine plausible und nachprüfbare Nachrichtenauswahl.

Wie steht es in diesem Zusammenhang mit den Twitter- und Facebook-Mitteilungen der Aktivisten auf dem Taksim- und auf den anderen Plätzen des Aufbegehrens gegen verkrustete Regime? "Besonders authentisch", sagen die Befürworter des Graswurzeljournalismus, "denn diese Leute sind ja wirklich dabei, sie sind mittendrin". Vorsicht, sage ich, denn genau das kann ein Problem sein. Natürlich erfahren wir auf diese Weise viel Unmittelbares. Aber halten die subjektiven Erfahrungsberichte einer Nachprüfung stand? Die Absender sind Aktivisten, sie stehen auf einer Seite, und wer mittendrin ist, hat manchmal nur einen sehr eingeschränkten Überblick. Solidarität ist eine ehrenwerte Haltung, journalistisch ist sie nicht der beste Ratgeber – oder anders ausgedrückt: Auch die Informationen derjenigen, denen unsere Sympathie gilt, bedürfen der professionellen Prüfung. Auch in den Twitter-Mitteilungen unmittelbar Betroffener bricht sich nicht automatisch die Wahrheit Bahn.

In unserem Pflichtenheft als Journalisten steht zudem die Aufgabe, aus einer Flut von Ereignissen einigermaßen urteilssicher die relevanten, die wichtigen Nachrichten herauszusieben und sie für das Publikum verständlich aufzubereiten. Doch was ist wichtig und was nebensächlich? Die Selektionskriterien dürfen jedenfalls nicht auf Willkür beruhen, und wir müssen bereit sein, sie zu benennen. Zur Themenauswahl gehört schließlich auch das Prinzip, dass es eine "Res publica" gibt und dass wir um dieser gemeinsamen Sache willen dem Publikum manchmal Themen zumuten müssen, die keine Quotenbringer oder medialen Selbstgänger sind, für den Zusammenhalt der Gesellschaft aber wichtig.

Wenn es uns gelingt, diesen Anspruch einzulösen, halten wir jenen Prozess in Gang, den Miriam Meckel die "soziale Synchronisation unserer Gesellschaft" nennt. Journalisten beobachten die Welt mit der Aufgabe und dem Ziel, das Ergebnis ihrer Beobachtung professionell aufzubereiten und es wieder in die Gesellschaft einzuspeisen. Nicht als Akteure, sondern als Beobachter und Erklärer.

Dazu braucht es auch die Bereitschaft, zwischen privaten Interessen und öffentlichen Angelegenheiten zu unterscheiden, sowie das Bemühen, nach allen Seiten Distanz zu halten und Fairness walten zu lassen. Schließlich die Aufgabe, Zusammenhänge aufzuhellen, Entwicklungen zu erklären und Entscheidungen von Akteuren aus ihren Motiven heraus verstehbar zu machen. Nicht zuletzt sollte die Fähigkeit zum Selbstzweifel zu den journalistischen Grundtugenden zählen.

Sie gelten ohne Abstriche auch für den Lokaljournalismus. Fast möchte ich sagen, sie gelten im Lokalen um so mehr, als hier die Leser den Faktengehalt und die Relevanz vieler Nachrichten aus eigener Anschauung beurteilen können, weswegen journalistisch-handwerkliche Nachlässigkeiten und Grenzgängereien sofort auffallen und vom Publikum sanktioniert werden.

Ein kleines Beispiel: Neulich berichteten wir in unserem Lokalteil darüber, dass in einer Taunusgemeinde der "Bürgermeister als Leiter der Ordnungsbehörde" beabsichtige, eine bestimmte Satzung zu erlassen. Es ging um den nie enden wollenden Kampf gegen den Hundekot auf den Trottoirs. Ein Leser, ein pensionierter Ministerialrat, wies uns darauf hin, dass nach Paragraph 74 des "Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung" (HSOG) eine solche Bestimmung nicht vom Bürgermeister erlassen, sondern nur von der Gemeindevertretung beschlossen werden könne. Dem Bürgermeister obliege es dann, eine solche Verordnung zu exekutieren. Der Leser fügte liebenswürdigerweise hinzu: "Ich hoffe, dass Sie dieses Schreiben nicht als das Produkt bloßer Besserwisserei ansehen. Es wäre sicherlich nicht von Nachteil gewesen, wenn die Rechtslage korrekt wiedergegeben worden wäre, um nicht zu einer weiteren Verwirrung der Leser beizutragen."

Gestatten Sie mir zu dem geschilderten Beispiel zwei Bemerkungen. Erstens: Sachliche Fehler in der Zeitung sind ärgerlich, sie sollten nicht vorkommen. Sie sollten dem Autor nicht unterlaufen und, wenn doch, sollte der Gegenleser, der Redakteur, sie entdecken. Die Qualität einer Zeitung erweist sich nämlich nicht in erster Linie in der Genialität und der Überzeugungskraft ihrer Leitartikel, sondern daran, ob die Namen und die Titel stimmen.

Zweitens möchte ich in diesem Fall die Beteiligten aber doch etwas in Schutz nehmen. Lokalkorrespondenten haben über eine Fülle von Themen zu berichten, von Verkehrsplanung über Gewerbeansiedlung bis zur Kulturpolitik und den Finanznöten städtischer Kliniken. Da gerät Paragraph 74 des "Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung" schon einmal aus dem Blick. Trotzdem: Es sollte nicht sein.

Aus einem weiteren Grund habe ich dieses Beispiel erwähnt. Es illustriert die eminent wichtige Funktion des Redakteurs, des Gegenlesers, als institutionelle Einrichtung. Eine versierte und wache Redaktion als Korrekturinstanz, die für den "Faktencheck" sorgt, erst halb recherchierte Geschichten zurückstellt und die Spreu vom Weizen trennt, ist das A und O im journalistischen Qualitätswesen. Denn damit wäre der einzelne Autor, Schreiber, Korrespondent heillos überfordert. Erst die Komposition einer Zeitung oder Sendung in der Redaktionskonferenz, der Filter vieler Gespräche, die Selbstvergewisserung im Austausch mit Kollegen, die Beantwortung der Frage "Können, wollen wir das wirklich vertreten? Oder schießen wir das über das Ziel hinaus?" – erst in diesem Zusammenspiel entsteht ein Qualitätsprodukt, das mehr ist als eine lose Sammlung gut geschriebener Einzelbeiträge.

All das zusammengenommen, liefert Journalismus der Öffentlichkeit das gedankliche Rüstzeug für die politische Willensbildung von unten nach oben. Nur wenn die Bürger ausreichende Kenntnisse über das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen im Großen und über ihr Lebensumfeld im Kleinen erhalten, können sie begründete Entscheidungen als Wähler, als Verbraucher, als Mitglied einer Bürgerinitiative oder eines Elternbeirats treffen.

Jetzt kann man fragen: Ist diese gesellschaftliche Dienstleistung an eine bestimmte mediale Vertriebsform gebunden? Konkret: Ist Qualitätsjournalismus nur in Gestalt von gedruckten Zeitungen vorstellbar? Meine Antwort ist: nein. Es geht nicht um eine bestimmte Distributionssweise, denn Zeitungsjournalisten sind keine Papierhändler. Es geht vielmehr um die Unterscheidung zwischen professionellem Journalismus auf der einen Seite und dem bunten Blumenbeet an Äußerungsformen, das die digitale Welt zum Blühen bringt, auf der anderen.

Das ist nämlich die Kehrseite der neuen digitalen Freiheit: Sie ist erkauft mit einer schleichenden publizistischen De-Professionalisierung. Anders, als Blogger und Bürgerreporter annehmen und behaupten, ist ernstzunehmender Journalismus nämlich mehr als nur Geschichtenerzählen, und er ist ganz bestimmt keine Heimwerker-Beschäftigung, die jeder beherrscht, wenn er sich ein bisschen Mühe gibt. Sondern ein Beruf, der bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse verlangt und dessen Ansprüchen bei weitem nicht jeder genügt, der in einem Blog die Zeitgenossen mit möglichst steilen Thesen unterhält. Wäre Journalismus ein Do-it-yourself-Job, könnten wir uns nämlich Journalistenschulen und Volontariate und den ganzen beträchtlichen Aufwand für die Journalistenausbildung sparen.

Will da jemand mit Zähnen und Klauen an einem überkommenen Berufsbild festhalten? Nein, denn der Journalismus hat sich immer schon gewandelt. Mir geht es um den Grenzverlauf zwischen Profis und Amateuren – nicht aus Standesdünkel, sondern weil das eine funktional sinnvolle Differenzierung ist, die wir auch aus anderen Berufen kennen. Aus guten Gründen unterscheiden wir doch in der Medizin den Herzchirurgen vom Wunderheiler, im Fußball den Nationalspieler vom Kicker in einer Kneipenmannschaft, und, wenn wir neue Scheibenbremsen brauchen, den Mechatronikmeister vom Hobbyschrauber. Und auch für mein Metier nehme ich in Anspruch, dass es ein Kompetenzgefälle gibt zwischen einem gelernten Journalisten und einem sogenannten Bürgerreporter.

Gelegentlich hat man freilich den Eindruck, als zählten Professionalität und durch Ausbildung erworbenes Wissen in der schönen neuen Welt nicht mehr viel. Wie ist es anders zu erklären, dass Patienten der Diagnose ihres Arztes grundsätzlich nicht mehr trauen, sondern – kaum sind sie wieder zu Hause – bei Google nach Belegen dafür suchen, dass es sich nur um eine gutbezahlte "Niete in Weiß" handeln könne? Warum ist das Netz voll von Verdachtschöpfereien, Verschwörungstheorien und obskuren Gegenwirklichkeiten der Art, die Amerikaner seien nie auf dem Mond gewesen und Kondensstreifen am Himmel stammten nicht von Flugzeugen, sondern seien Spuren von Geheimdiensten, die unser Denken vernebeln wollen? Denken wir unter diesem Aspekt die Vorstellung einmal zu Ende, nach dem Sieg der sogenannten digitalen Revolution gebe es keinen traditionellen Journalismus mehr, sondern nur noch die Schwarmintelligenz der vielen.

Dann äußert sich jeder jederzeit über alles, und weil alles so authentisch ist, kann auch jeder jede Form der Kompetenz für sich und für seine Steckenpferde beanspruchen. Weil die Kaste der weltlichen Journalistenpriester abdanken musste, sortiert niemand mehr mit Sinn und Verstand und nach handwerklichen Kriterien die Themen nach ihrer Relevanz, denn das war ja eine besonders üble Form der medialen Repression. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mir kommt das so vor, als würden wir uns alle, statt zum Friseur zu gehen, gegenseitig die Haare schneiden. Das kann ja ganz sympathisch sein – aber würden wir uns auch von einem Bürgerchirurgen den Blinddarm entfernen lassen? Lachen Sie bitte nicht. Mein Kollege Jürgen Kaube hat neulich darauf hingewiesen, dass es nicht wenige gibt, die bei der Bewertung technischer Geräte den Beschreibungen der Facebook-Gemeinde inzwischen mehr trauen als der "Stiftung Warentest". Vielleicht bin ich da von gestern, aber wenn es um eine Digitalkamera geht, gebe ich auf das Urteil der Profi-Tester doch mehr als auf die Eindrücke der Schwarmintelligenz.

Eins steht für mich fest: Je komplexer die Dinge werden, desto mehr brauchen wir den Sachverstand und die Vermittlungsleistung guter Journalisten. Ein aktuelles Beispiel: Der Konflikt im Suhrkamp-Verlag ist ziemlich kompliziert. Zwei Gesellschafter sind wie Hund und Katz. Sie treffen sich nur noch vor Gericht. Jetzt verlegt sich die eine Seite auf das neue Insolvenzrecht. Möglich, dass dadurch die Dinge vernünftig geordnet werden können. Möglich, aber nicht sicher. Um diesen Vorgang zu verstehen und Lesern zu beschreiben, die keine Professur für Gesellschaftsrecht haben, sich aber für das Schicksal des vielleicht renommiertesten deutschen Buchverlags interessieren, um das also hinzubekommen, muss man sich in das Thema hineinbeißen, man muss Gerichtsverhandlungen folgen, man muss Verlagsleute und Juristen befragen. Bloß mit einer flotten Schreibe und einer vorgefassten Ganoventheorie über Manager ist das jedenfalls nicht zu schaffen.

Nun wäre es unehrlich, die Fehlleistungen unseres Metiers nicht wenigstens anzusprechen. Ein zugegebenermaßen ernstes Problem ist ein gewisses Rudelverhalten. Wir sind nicht frei von der Versuchung, uns daran zu orientieren, was die anderen schreiben oder senden. Da wittert die Öffentlichkeit dann schnell eine "Kampagne". Das ist albern, denn organisierte Verabredungen gibt es nicht. Es ist eher eine Art Herdentrieb, der in einen Gleichklang mündet, denn es ist immer angenehmer, Teil einer Gesamtstimmung zu sein als ein Abweichler. Diesen Wunsch, nicht völlig abseits zu stehen, verspüren auch Journalisten. Das gerät dann ins Bedenkliche, wenn es keine Vielfalt der Stimmen und Sichtweisen gibt, sondern nur noch einen, lautstarken Chor.

Deshalb bin ich gerne bereit, mir jede kritische Frage nach der Rolle der Medien im Fall Christian Wulff stellen zu lassen. Und ich sage, wir haben uns da – nicht in jedem Einzelfall, aber als Branche – am Rande dessen bewegt, was unsere Aufgabe ist. Nicht jenseits der Grenze, aber am Rande. Andererseits wäre es aber auch unangemessen, in Wulff nur ein Medienopfer zu sehen. Er hat – noch in seiner Zeit als Ministerpräsident – den Landtag unzutreffend informiert, und er war als Bundespräsident überfordert im Umgang mit Vorwürfen. Das ist keine Kleinigkeit für den Mann im höchsten Staatsamt. Ob seine Fehler und Ungeschicklichkeiten das erlebte Ausmaß an Verdachtsberichterstattung rechtfertigten, steht auf einem anderen Blatt.

Sie sehen, die Sache steckt voller schwieriger Abwägungen. Ihre Rolle erlegt Journalisten eine besondere Sorgfaltspflicht auf, aber das schließt eine Verdachtsberichterstattung nicht aus. Hans Mathias Kepplinger, Emeritus für Medienforschung in Mainz, weist darauf hin, "wollte man die Verbreitung von möglicherweise falschen Informationen verhindern, wäre damit auch die Verbreitung der Informationen behindert, deren Richtigkeit sich erst nachträglich herausstellt". Der Fall Wulff wird jedenfalls reichlich Stoff für journalistische Seminare abgeben.

Ein gängiger Vorwurf an die Adresse von Journalisten ist in diesem Zusammenhang der Vorwurf des Negativismus. Vor einiger Zeit konfrontierten mich in Moskau russische Studenten mit einer Inhaltsanalyse, aus der hervorging, dass das Image Russlands in den deutschen Medien katastrophal schlecht sei. Ich versuchte sie mit dem Hinweis zu trösten, dass es ein Land gebe, dessen Bild in den deutschen Medien vermutlich noch schlechter sei, nämlich Deutschland. Warum? Weil Journalisten notorische Miesmacher sind, die am liebsten alles mit Salzsäure übergießen? Nein, sondern weil unsere Aufgabe nicht die Schönfärberei ist, dafür gibt es Werbeagenturen und Public-Relation-Büros. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, darauf aufmerksam zu machen, wenn nach unserer Auffassung etwas schiefzulaufen droht. So gesehen, könnte man unsere Rolle durchaus mit dem vorbeugenden Brandschutz vergleichen.

Ein Beispiel, das einiges über die möglicherweise brandverhütende Kraft medialer Aufdeckung sagt, kommt aus Amerika: Im April 1961 bekam die "New York Times" Informationen über die von der CIA geplante Invasion in der kubanischen Schweinebucht. Die verantwortlichen Redakteure befanden sich in einer schwierigen Situation: Sollten sie das genaue Datum einer Undercover-Operation öffentlich machen? Wo verläuft die Grenze zwischen Medienfreiheit und Staatsräson? Was, wenn die Informationen nicht zutreffen? Zulässige Verdachtsberichterstattung oder unvertretbare Kolportage von Gerüchten? Sie entschieden sich für einen eher unauffälligen Artikel, der ohne Terminangabe von Planungen für eine solche Operation berichtete. Präsident John F. Kennedy tobte zunächst über den Geheimnisverrat, war aber später der Meinung, die "New York Times" hätte noch viel deutlicher über die Pläne berichten sollen, dann wäre die gesamte Aktion vielleicht abgeblasen worden und hätte ihn vor dem größten Misserfolg seiner Amtszeit bewahrt.

Ein britischer Chefredakteur hat einmal gesagt, die Aufgabe des Journalismus bestehe darin, das aufzudecken, was bestimmte Leute verschweigen wollen. Alles andere sei Reklame. Das ist eine typisch angelsächsische Messlatte, hoch angesetzt, aber als Richtschnur nicht ungeeignet. Einerseits. Andererseits hat auch der sogenannte investigative Journalismus Grenzen zu respektieren. Das Spannungsfeld zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit auf der einen Seite, bestimmte Sphären aufgehellt zu bekommen, und dem Persönlichkeitsschutz der jeweils Betroffenen auf der anderen Seite muss immer wieder neu ausgemessen werden. Auch und gerade hier gilt, dass nicht jeder Zweck jedes Mittel heiligen darf.

Die Preisträger, die wir heute auszeichnen, haben all diese Herausforderungen mit Bravour gemeistert. Ich habe am Beispiel des Suhrkamp-Verlages versucht zu skizzieren, wie fordernd der ernstzunehmende, nachfragende, nachforschende Journalismus ist – in puncto Recherche, in puncto Gründlichkeit sowie in puncto Bereitschaft und Fähigkeit, sich in Themen förmlich hineinzukämpfen. Das haben die Lokaljournalisten, die Sie gleich kennenlernen werden, auf herausragende Weise getan. Ihnen gilt unser Dank, unser Glückwunsch und unsere Anerkennung. Gut, dass es den Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus gibt, der eine solche Arbeit auszeichnet.


Rede von Dr. Christian Hodeige