Laudatio Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus 2019

2. Preis, Recherche-Team, Stuttgarter Zeitung

von Werner D'Inka

Was dem Winzer die Arbeit in einer Steillage, ist für einen Badener die Aufgabe, eine Laudatio auf Kollegen aus Stuttgart zu halten. Nein, es ist nicht so, wie Sie denken. Der Laudator reißt keine billigen schwabenfeindlichen Witze. Es ist vielmehr so: Reben in einer Steillage ergeben einen besonderen, einen unvergleichlichen Tropfen – und die Kollegen aus Stuttgart haben eine außergewöhnliche Serie vorgelegt, die zu würdigen mir eine ausgesprochene Freude ist.

Die Rede ist von der zwölfteiligen Serie „Achtung, Unterrichtsausfall!“, erschienen in der Stuttgarter Zeitung und in den Stuttgarter Nachrichten im September und Oktober 2018. Was ist das Besondere daran? Das ist zunächst die professionelle Beharrlichkeit, mit der die Damen und Herren Kollegen der beiden Zeitungs-redaktionen und des Multimedia-Ressorts das Thema bearbeitet haben. Über Unterrichtsausfall an unseren Schulen schreiben wir alle immer mal wieder Einzelartikel, wenn ein Elternbeirat oder ein Schulleiter sich beklagt. Dabei bleibt es dann meistens. Die Kollegen aus Stuttgart haben dieses Feld aber viel tiefer umgepflügt – so tief, wie es in einer thematischen Steillage überhaupt nur möglich ist. In einer Serie aus zwölf Beiträgen haben sie sich der Sache von allen Seiten genähert, sie haben – wenn ich das, weil ich vom Lande komme, so ausdrücken darf – sie haben die Sau auf den Rücken gedreht und sie sich auch von unten angeschaut.

Bemerkenswert ist schon der Zugang zum Thema. Der Rechtsanwalt sagt: „Hab‘ ich Vorschuss, kann ich denken.“ Der Journalist sagt: „Hab‘ ich Zahlen, kann ich berichten – hab‘ ich keine, dann lasse ich es.“ Nicht so unsere tüchtigen Stuttgarter. Sie sagten: „Haben wir keine offiziellen Zahlen über den Unterrichtsausfall, dann erheben wir eben selber welche.“ Es klingt unglaublich, ist aber wahr: Darüber, wie viel und wie häufig an unseren Schulen Unterricht ausfällt, gibt es wenig belastbare Daten. Das gilt auch für die Schulen in Stuttgart.

Genauer gesagt: Es galt auch für die Schulen in Stuttgart. Dann aber legten die Kolleginnen und Kollegen los, dass es eine reine Freude war. Sechs Monate lang trugen Sie mit Geduld und Fleiß – so ist der Schwabe – Daten und Fakten zusammen. Und wenn Sie denken, die Rechercheure seien im Kultusministerium und bei den Schulämtern auf Händen getragen worden, dann irren Sie sich, um nur das Mindeste zu sagen. Dort wurde auf eine Weise gemauert, die dem Mauerbauer Walter Ulbricht Respekt abgenötigt hätte. Deshalb gingen die Kollegen in den Häuserkampf und wandten sich direkt an die fast 200 weiterführenden Schulen in Stuttgart. Auch dort wurden sie nicht mit La-Ola-Wellen begrüßt, manche Schulleiter bekannten sogar, sie hätten Angst davor, gemaßregelt zu werden, wenn sie Zahlen über Unterrichtsausfall herausgäben.

Hartnäckig und mit dem Werben um Vertrauen blieben unsere Rechercheure aber am Ball, und nach sechs Monaten unermüdlicher Arbeit hatten sie eine repräsentative Datengrundlage über den Unterrichtsausfall in Stuttgart beisammen. Ergebnis: An bestimmten Schulformen und zu bestimmten Zeiten fällt deutlich mehr Unterricht aus als bislang vermutet.

Wir in der Jury fanden neben dieser Rechercheleistung auch die journalistische Umsetzung beispielhaft. Da wird nicht mit dem Finger auf vermeintliche Versager oder Faulenzer gezeigt, die Berichterstattung wird vielmehr der Komplexität des Themas jederzeit gerecht. Wir haben ja in Deutschland nicht nur 80 Millionen Fußball-Bundestrainer und 60 Millionen Chefärzte, die genau wissen, wie es geht, wenn man sie nur ließe. Wir haben auch gefühlt 120 Millionen Schulleiter, die, wenn man sie nur fragte, genau sagen könnten, was an unseren Schulen schiefläuft. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wenn irgendwo etwas schiefläuft, müssen wir Journalisten das beim Namen nennen, dafür Öffentlichkeit herzustellen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, Thomas Hauser hat eindrucksvoll darüber gesprochen.

Ich finde, wir sollten dabei aber eine Maxime von Albert Einstein beherzigen, der gesagt hat: „Man muss die Dinge so einfach erklären wie möglich, aber nicht einfacher.“ Genau das ist die Kunst. Gerade in der digitalen Welt laufen genügend Schwätzer herum, die auf alles die berühmte einfache Antwort haben, wahrscheinlich auch auf den Unterrichtsausfall. Wer aber die Serie in den Stuttgarter Zeitungen gelesen hat, weiß, dass die Sache dann doch ein bisschen komplizierter ist. Die Kollegen sprachen mit einem überforderten Stundenplanmacher, sie lernten den Frust einer Vertretungslehrerin kennen, sie hörten Eltern und Jugendlichen zu – wir haben es in dem Textausschnitt gehört –, und sie ließen die Kultusministerin zu Wort kommen. Will sagen: Sie haben das zerklüftete Gelände dieser Steillage ziemlich gut kartographiert, und auch das ist eine herausragende Leistung.

Und doch wäre alles unvollständig, wenn am Ende die resignierende Einsicht stünde: Das Thema ist so unendlich kompliziert, da kann man eben nichts machen, Unterricht ist schon immer ausgefallen und wird immer ausfallen, davon geht die Welt nicht unter. So war es aber nicht – im Gegenteil: Die Serie brachte Bewegung in die Sache. Die Kultusministerin kündigte an, dass künftig verlässlichere Daten über den Unterrichtsausfall erhoben werden, und auch kleine Maßnahmen von Politik und Verwaltung verändern die Lage nach und nach zum Besseren. Und nicht zuletzt das große Leserecho zeigt, dass die Serie vielen aus der Seele sprach.

Und wer hat’s erfunden? Diese großartige Leistung haben in alphabetischer Reihenfolge erbracht:

Ihnen allen gratuliere ich im Namen der Jury sehr herzlich und mit kollegialer Hochachtung.