Laudatio Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus 2021

1. Preis: Eike Lenz, Main-Post

Gehalten von Werner D’Inka, ehemaliger Herausgeber der Frankfurter allgemeinen Zeitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ein Bahnhof ist etwas Besonderes. Im Gefühlshaushalt einer Stadt ist er mehr wert als jede andere x-beliebige Immobilie, von Kirchen und Traditionskneipen vielleicht abgesehen – und natürlich von Schwarzwald-Stadien. Viele fahren tagtäglich von „ihrem“ Bahnhof zur Arbeit oder zur Schule. Wie viele Abschiedsküsse sind an einem Bahnhof gewechselt, wie viele Verabredungen hier getroffen worden – und ich erinnere mich an Zeiten, in denen, wer fremd in einer Stadt war und Hunger hatte, bedenkenlos die Bahnhofsgaststätte aufsuchen konnte, weil man dort fast immer ein anständiges Essen bekam, zumal hier in Südbaden. Und ganz sicher ist es kein Zufall, dass Agatha Christie einem ihrer bekanntesten Krimis den Titel „16.50 Uhr ab Paddington“ gab und nicht „16.50 Uhr ab Logistikzentrum“.

Das ist sozusagen der mentalitätsgeschichtliche Hintergrund zu dem Beitrag, den vorzustellen ich das Vergnügen habe. Worum geht es? Da kauft jemand im großen Stil Bahnhöfe, drei Dutzend in ganz Deutschland, wir haben es gehört. Was aber macht jemand, der Bahnhöfe kauft, mit ihnen? Die erste Vermutung lautet: Reibach. Das wäre noch nicht einmal das Verwerflichste, denn so funktioniert der Kapitalismus nun einmal, und wenn ein Investor einen Bahnhof, den der Staatsbetrieb Deutsche Bahn verwahrlosen ließ, wieder in Schuss bringt und ein überzeugendes Nutzungskonzept vorlegt, dann darf er damit auch gern Geld verdienen. Der Bäcker unsers Vertrauens bäckt Wasserweggli ja auch nicht aus Mitleid, sondern weil Rendite lockt.

Etwas anders geht die Geschichte, die Eike Lenz – Redakteur und Reporter der Main-Post in Kitzingen – recherchiert geschrieben hat. Hier kauft jemand Bahnhöfe und macht keinen Reibach, sondern lässt sie herumstehen wie andere Leute Umzugskartons, die sie gerade nicht brauchen. Das Muster ist immer dasselbe: Vielen Kommunen hängt der Bahnhof wie ein Klotz am Bein. Landauf, landab verwahrlosen Bahnhofsgebäude derart, dass man sich als Einheimischer schämt und als Bahnfahrer ekelt. Im hessischen Bad Vilbel, wo ich wohne, konnte man dem Verfall jahrelang zuschauen: Erst schlossen der Fahrkartenschalter und der Kiosk, dann wurden die Scheiben eingeworfen, der Ticketautomat wurde angekokelt und in der Unterführung zu den Gleisen stank es – pardon – nach Urin und Erbrochenem. Verwaltungen nicht nur in Kleinstädten können viele solcher Geschichten erzählen und vom Streit mit der Bahn, wer wofür zuständig ist. Da ist jeder Bürgermeister froh, wenn ein Investor auf den Plan tritt und das Blaue vom Himmel verspricht, wie er wie ein Märchenprinz die schlummernde Schönheit wachküssen wird. Womit ganz bestimmte Märchenerzähler nicht rechneten, war: dass Eike Lenz ihnen auf die Finger schaut – nach dem guten alten Journalistenmotto: Vertrauen ist gut, genau hinschauen ist besser.

In drei Beiträgen, die zwischen August 2020 und Januar 2021 in der Main-Post erscheinen, weist Lenz nämlich nach, dass die Fälle, die aus der Sicht der jeweiligen Stadt wie Einzelfälle ohne Zusammenhang aussehen mögen, genau das nicht sind, sondern dass ganz offenbar System dahintersteckt: Kitzingen, Lohr, Bad Friedrichshall, Schwelm, Fürstenwalde, Brake und 30 weitere Kommunen von Niedersachsen bis Unterfranken.

Wie Eike Lenz nach und nach akribisch Fakten zusammenträgt, wie er nachforscht, nachhakt, nachfragt – das gehört in jedes Lehrbuch journalistischer Recherche. Er geht zurück an den Anfang des neuen Jahrtausends und zeichnet nach, wie sich die Bahn seinerzeit anschickt, bundesweit etwa 1000 nicht mehr benötigte Bahnhofsgebäude an die Immobilienfirma First Rail Property zu übertragen. Ziel ist ein Immobilienfonds, Investoren werden jährliche Ausschüttungen von acht Prozent und Verkaufsgewinne von bis zu 100 Prozent nach zwölf Jahren in Aussicht gestellt. Schwer zu sagen, ob die Sache von Anfang an windig ist, aber mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Vorkaufsrecht von Kommunen bei der Veräußerung von Bahnhofsgebäuden nimmt es der Staatsbetrieb Bahn jedenfalls nicht so genau. Mit der Zeit beginnt sich die Staatsanwaltschaft für die Geschäfte der First Rail zu interessieren, ein Geschäftsführer stürzt mit seinem Privatflugzeug in der Schweiz zu Tode, 2006 folgt die Insolvenz.

Bereits geschlossene Verträge, auch der des Kitzinger Bahnhofs, werden rückabgewickelt. Die Bahn sitzt wieder auf ihren Gebäuden, Anleger sind um viel Geld ärmer, Kommunen um eine ungute Erfahrung reicher. Und wer mischt damals schon bei der First Rail mit? Genau, unser Sportsfreund Stefan Steinert – Sie wissen schon, der mit dem Motto „Wir verstehen Bahnhof“. Auch das findet Eike Lenz heraus, obwohl unser Bahnhofsversteher da mindestens so zugeknöpft ist wie die Uniformjacke eines Zugführers im Orient-Express.

Und noch viel mehr bringt Eike Lenz ans Licht. Er lässt sich nicht abschrecken von der Firmenstruktur von Steinerts Aedificia, die verschachtelter ist als jeder Umzugskarton – „ein Geflecht aus GmbHs, KGs und GBRs, in dem man schon mal den Überblick verlieren kann“, wie er schreibt. Er recherchiert beharrlich weiter, spricht mit Kommunalpolitikern und Investoren, erkundigt sich bei Sparkassen und Stadtverwaltungen und lässt natürlich auch die Bahn und Steinert selbst zu Wort kommen, der eine hohe Meinung von sich selbst hat – und eine weniger schmeichelhafte über Leute, die Fragen stellen. Kritiker tituliert er als „Menschen, die im Leben noch nie etwas gemacht haben“ und auf die Frage nach dem Zustand eines Bahnhofs wird er richtiggehend pampig: „Das ist mein Gebäude, das geht niemanden etwas an.“

Höchste Eisenbahn, kann man nur sagen, dass Eike Lenz Licht in diesen Tunnel brachte. Seinem klaren Blick für Zusammenhänge, seiner Beharrlichkeit und seinem Recherchefleiß ist es zu verdanken, dass er Strukturen zutage förderte, wo vieles zunächst nach Einzelfällen aussah, die nichts miteinander zu tun haben schienen. Erst durch seine Berichterstattung erkannten Kommunen, dass sie Teil eines größeren geschäftlichen Kalküls waren oder sind. Auch der Jury des Ralf-Dahrendorf-Preises, deren Mitglieder aus ganz Deutschland kommen, war das Thema in dieser Dimension neu. Auch wir hatten von einem verlotterten Bahnhof hier und von einer Investitionsruine dort gehört oder selbst darüber geschrieben, aber den Blick für den Gesamtzusammenhang hat uns erst Eike Lenz geschärft.

Schließlich und endlich hat seine kontinuierliche Berichterstattung auch die Kommunalpolitik und Verkehrsexperten aus dem Landtag auf den Plan gerufen. So kam es, dass die Stadt Kitzingen Mitte Januar 2021 den Bahnhof zurückkaufen konnte. Behalten will sie ihn nicht, wie wir gehört haben, sie will ihn vielmehr möglichst schnell wieder an einen privaten Investor verkaufen. Ob man das für richtig oder für falsch hält, ist letztlich eine Frage ordnungspolitischer Überzeugungen. Eines ist jedenfalls ebenso sicher wie beruhigend: Eike Lenz wird ein wachsames Auge darauf haben.

Die Redewendung „Bahnhof verstehen“ finden wir übrigens zum ersten Mal in Hans Falladas Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Dort heißt es: „‚Ich verstehe immer Bahnhof,‘ sagte er. ‚Bahnhof ist gar nicht so schlecht,‘ sagte sie, ‚wenn einer türmen muss.‘“ Wie gut, dass Eike Lenz vor der Komplexität seines Themas nicht getürmt, sondern dass er beharrlich drangeblieben ist und dass er aus einer Idee eine meisterhafte, eine herausragende Geschichte gemacht hat. Der mehr als verdiente Lohn ist der Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus, zu dem wir Eike Lenz sehr herzlich gratulieren.