Festrede, gehalten von Thomas Fricker, Chefredakteur der Badischen Zeitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen auch von meiner Seite aus. Wunderbar, dass Sie alle da sind! Und wunderbar, dass wir nach fast zwei Jahren pandemie-bedingter Ausnahmesituation die Vergabe des Ralf-Dahrendorf-Preises für Lokaljournalismus wieder gemeinsam „in echter Präsenz“ feiern können - zugegeben in etwas kleinerem Rahmen; angesichts des nötigen langen Vorlaufs wäre eine große Publikumsveranstaltung schlicht nicht realistisch planbar gewesen.

Aber wir alle - oder zumindest die meisten von uns - sind ja bescheiden geworden in Corona-Zeiten. Und was es heute hier im BZ-Museum zu feiern geben wird, ist fürwahr nicht kleiner oder unbedeutender geworden. Exzellenter Journalismus, der lokal beziehungsweise regional verankert eine informierte Öffentlichkeit herstellt und dadurch maßgeblich zu einem funktionierenden Gemeinwesen mit demokratischer Teilhabe beiträgt, ist wichtiger denn je - wir werden nachher ja überaus gelungene, preisgekrönte Beispiele eines solchen Journalismus‘ vorgestellt bekommen. Einfacher ist er allerdings nicht geworden. Gestatten Sie mir, dazu einige Gedanken vorzutragen.

Zunächst darf ich an dieser Stelle eine positive Botschaft loswerden: Der Journalismus klassischer Medien, gerade auch von lokalen und regionalen Medienhäusern, ist in den vergangenen 20 Monaten insgesamt relevanter geworden. Um es zugespitzt auszudrücken: Wir sind Krisengewinnler!

Denn wenngleich praktisch bei allen Verlagen in der Pandemie die Anzeigen- und Werbeerlöse dramatisch eingebrochen sind, schoss die Nachfrage der Leserinnen und Leser nach seriösen Informationen rund um Corona in die Höhe. Wer diese Nachfrage vernünftig bediente - und das waren viele Zeitungen - der konnte seine Auflage gedruckt stabilisieren und im Digitalbereich massiv steigern.

Wenn ich als Chefredakteur aus dem Vertriebskästchen plaudern darf: Die BZ verzeichnet bei manchen Digital-Abo-Modellen Steigerungsraten von mehr als 60 Prozent. Im Jahresvergleich! Sehr viele der „Corona-Neukunden“ bleiben uns treu - weshalb mir die Vermutung erlaubt sei: Ganz miserabel können wir nicht gearbeitet haben. Aber genug des Selbstlobs…

Die positive Entwicklung kontrastiert ja auf merkwürdige Art mit der Kritik, die dem Journalismus seit Ausbruch der Pandemie immer lauter und aggressiver entgegenschlägt. Ähnlich wie im Nachgang zur sogenannten Flüchtlingskrise, aber noch feindseliger, noch gewalttätiger wird uns als klassischen Medien Verfälschung und Manipulation, Propagandadienste für die Corona-Diktatur im Kanzleramt und das gnadenlose Unterdrücken der wahren Wahrheiten vorgeworfen.
Richtig ist, dass wir Journalisten - wie schon im Umgang mit dem Thema Flucht und Migration - bei der Behandlung des Themas Corona Fehler gemacht haben und machen. Immer wieder. Natürlich!

Aber richtig ist auch, dass die meisten von uns großen Aufwand betrieben haben, um zunächst einmal selbst zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht, um dann unter teilweise verdammt schwierigen Arbeitsbedingungen mit neuen Berichtsformen, täglich aktualisierten Newsblogs und Grafiken, gestreamten Experten-Interviews, Frage- und Antworttexten oder „Was wir wissen und nicht wissen“-Formaten Journalismus gerade auch auf lokaler und regionaler Ebene in einer Tiefe zu liefern, die wir fast schon vergessen hatten.
Das alles passierte bzw. passiert allerdings in einer Netzöffentlichkeit, die unsere Gesellschaft meiner Überzeugung nach inzwischen noch brutaler segmentiert und beeinträchtigt als noch vor wenigen Jahren.

Der Medien-Wissenschaftler Bernhard Pörksen, den ich gerne als viel kompetenteren Redner als ich selbst einer bin heute hier begrüßt hätte - leider treibt er sich gerade in Kalifornien herum, sonst wäre er gekommen -, hat sich in unserer Beilage zum 75. Geburtstag der BZ im Juli selbst die Frage gestellt, was es denn heiße, wenn sich „manche Menschen aus der gemeinsamen Wirklichkeit verabschieden?“ Seine Antwort war - grob verkürzt -, dass sich diese Menschen in eine Netzwirklichkeit begeben. Diese sei ungleich kuscheliger als der „Raum kollektiv geteilter Realitäten“, die ordentliche Zeitungen als „Integrations- und Irritationsinstrumente“ eröffneten. Es falle den Menschen dort leichter, sich in „privat-persönlichen Wirklichkeitsblasen“ hineinzugoogeln“…, „sich wechselseitig - ohne die Reibung mit der Agenda der Allgemeinheit - die Richtigkeit der eigenen Annahmen zu bestätigen und zu dem Gefühl zu gelangen: „Wir sind viele - und warum werden wir eigentlich nicht gehört?““

Diese „Mehrheitsillusionen“ - und damit verlasse ich Pörksens Essay wieder - bereiten uns Journalisten - natürlich auch der Gesellschaft insgesamt, aber hier geht es erst mal um uns - beträchtliche Probleme.
Welche Redaktion kennt sie nicht, die Mails, in denen Noch- oder Nichtmehr-Leser ihr Listen zuschicken mit Links angeblich voller Beweise dafür, dass Corona harmlos, Impfungen tödlich und Masken schädlich seien?

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Hardcore-Verschwörungsmythen von wegen Chips unter der Haut oder Bill Gates` Versuch, die Menschheit unfruchtbar zu machen. Sondern da führt zum Beispiel ein einzelner Arzt oder Apotheker - das kann auch ein prominenterer Arzt oder der Präsident des Apothekerverbandes sein - eine Studie über die Beeinträchtigung des Atmens durch das Tragen eines Mundschutzes an und möchte diese Position und am besten exakt diese Stimme gerne in seiner Zeitung widergegeben sehen. Die Redaktion weiß aber, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, dem 1100 Mitarbeiter angehören, Hunderte Studien geprüft und dann in der Abwägung von Vor- und Nachteilen fürs Maskentragen plädiert hat. Sollen wir also aus reinem Proporzdenken jeder „Pro-Masken- oder Pro-Impfaussage eine Contra-Aussage hinzufügen? Das wäre weder Proporz noch Meinungsvielfalt, sondern durch die Gleichsetzung einer Einzelstimme mit einer wissenschaftlich-basierten Mehrheitsmeinung letztlich eine Verfälschung des Berichtsgegenstandes, eine Entwertung des tatsächlich Berichtenswerten.

Der Wert von Qualitätsjournalismus, wie wir ihn verstehen, besteht ja gerade darin, stellvertretend für die Leserschaft Informationen zu beschaffen, aufzubereiten und zu veröffentlichen, an die die Leserschaft ohne Journalismus gar nicht oder nur mit sehr großer Mühe käme. Wir recherchieren, wählen aus, lassen weg oder platzieren etwas prominent - um den Lesern oder Usern Orientierung zu geben, auch um ihm Arbeit abzunehmen und ihn gleichwohl zur aktiven Teilhabe im Gemeinwesen, zum Mitdiskutieren und Mitentscheiden zu ertüchtigen.

Und ja, hinter diesem Anspruch blitzt weiterhin die Gefahr der Besserwisserei hervor. Ein Hang zur Bevormundung, der im zuweilen ziemlich überheblichen Gerede von Journalisten als den „Gatekeepern“ für Informationen jahrelang den Journalismus nicht besser, sondern schlechter gemacht hat.

Wir alle kennen ja die These, wonach sich die Gatekeeper-Funktion von Journalismus schon dadurch erledigt habe, dass im Internetzeitalter Informationen jeder Art rund um die Uhr für jedermann und jedefrau frei verfügbar und zugänglich seien.
Das ist natürlich Blödsinn.

Tatsächlich erstickt die Öffentlichkeit an zu viel Information. Im Übermaß des Allzeit-Verfügbaren geht die Übersicht verloren. Viele Menschen vermögen nicht mehr zwischen zuverlässigen und dubiosen Quellen zu unterscheiden. Und natürlich haben daran etliche Akteure, ob Firmen oder Staaten, ein Interesse - das ist an dieser Stelle ganz bestimmt keine Verschwörungstheorie… Eine gatekeeper-Funktion ist also wichtiger denn je, aber eben zwingend in Kenntnis der eigenen Fehlbarkeit, unter Wahrung einer Vielfalt der Positionen und Perspektiven und vor allem im Bewusstsein der eigenen Subjektivität, die unsereins den Lesern bitteschön nicht verheimlichen, sondern offenlegen sollte. - Übrigens scheint die Fähigkeit, Positionen und Perspektiven zu ertragen, die nicht die eigenen sind, grundsätzlich zu schwinden. Das macht die Aufgabe noch schwieriger, aber eben halt auch noch wichtiger als früher.

Vielleicht der Generalschlüssel zu Glaubwürdigkeit ist Transparenz. Nicht unbedingt gegenüber denen, die gar keinem Argument außerhalb ihrer eigenen Blase mehr zugänglich sind. Aber gegenüber einer Mehrheit, die zweifelt, auch mal hadert, aber die doch erreichbar ist und überzeugt werden will, bevor sie sich eine Meinung bildet.
Was heißt das für unsere Arbeit?

Zeitungen - ob gedruckt, digital oder zunehmend auch in Video- oder Podcast-Formaten - sollten grundsätzlich ihr Handwerk besser erklären, Recherchewege offenlegen, zum Dialog und zur Diskussion mit Lesern bereit sein. Klammer auf: Jeder Praktiker weiß, wie schwer das ist, denn die Redaktionen sind in den vergangenen Jahren nicht größer, sondern kleiner geworden, Arbeitsabläufe wurden verdichtet, mit der Digitalisierung kamen neue Aufgaben hinzu - Freiräume muss man da oft mit der Lupe suchen.

Vor allem aber sollten Zeitungen, sollten wir Journalisten versuchen, aus den Erfahrungen mit der Pandemie-Berichterstattung zu lernen. Wie lässt sich die zweifellos gewonnene Relevanz in den hoffentlich nahen Nach-Corona-Zeiten halten? Wie schaffen wir es, andere Themen in ähnlicher Intensität und Tiefe zu behandeln, um unseren Leserinnen und Lesern echten Mehrwert zu liefern, nämlich wirklich fundierte Berichterstattung, die dann auch ihr Geld - sprich ein Abo - wert ist?
Eine von mehreren Antworten heißt: Klasse statt Masse.

Ich weiß, das Rezept ist nicht neu. Aber sich wirklich auf wenige wichtige Themen zu konzentrieren, anstatt seine Arbeitskraft zu verzetteln und die Zeitungen und Nachrichtenportale mit Mittelmäßigem zu fluten, bleibt eine Herausforderung. Zumal für eine Branche, der man unterstellt, es mit einem tendenziell konservativen, Neuerungen gegenüber skeptisch eingestellten Publikum zu tun zu haben. Vermutlich können einige der heute versammelten Preisträger mit Blick auf ihre eigenen Häuser, ganz sicher wir mit Blick auf die Badische Zeitung ein Lied singen über die besorgten Debatten, die vor Änderungen am Ausgabenzuschnitt, den Umfängen, der Vereinsberichterstattung usw. jeweils geführt wurden und teilweise immer noch werden. Und ja, mitunter sind die Reaktionen aus der Leserschaft auf neue redaktionelle Konzepte, auf weniger und dafür journalistisch hochwertigere Inhalte durchaus gemischt. Und weil die Zufriedenen sich selten melden, tönt der Chor der Unzufriedenen umso lauter. Bloß: Das Fortschreiben des Status quo wäre für eine Zeitung keine zukunftsfähige Lösung. Der Status quo wäre gleichbedeutend mit dem sicheren Niedergang.

Diesen nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren ist die Herausforderung. Dazu beitragen kann das Ringen um mehr Relevanz auch und gerade durch die Nutzung von Daten. Was vor Jahren noch verpönt war, hat sich inzwischen in etlichen Redaktionen eingebürgert - freilich: Der Umgang damit ist noch ausbaufähig.

Bevor Sie sich jetzt naserümpfend fragen, was Relevanz, Qualität und journalistische Klasse mit Klickzahlen zu tun haben - um Klickzahlen geht es am wenigsten. Sondern um ständig sich weiter entwickelnde Möglichkeiten der Analyse von Nutzungsgewohnheiten, Lese-Intensitäten, potenzieller Zahlungsbereitschaft, Kündigungswahrscheinlichkeiten und vieles mehr. Idealer Weise schöpft eine Redaktion damit ihre Möglichkeiten besser aus. Datenanalyse ersetzt nicht die journalistische Arbeit, es macht sie treffsicherer, fokussierter - damit steigen die Chancen, unsere publizistische Aufgabe in einer Gesellschaft im Wandel auch weiterhin zu erfüllen.

Dies bedeutet keinen Abgesang auf Kompetenz, Kreativität oder das seit einiger Zeit gern geschmähte „Bauchgefühl“ von Journalisten. Darauf kommt es weiter an. Schon deshalb, weil nur das gemessen und analysiert werden kann, was bereits da ist. Was, wenn hochrelevante Geschichten gar nicht mehr entstünden, weil die Datenanalyse vorab signalisiert hat: Das entsprechende Themenfeld ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unergiebig? Es wäre ein Trugschluss, würde eine Redaktion sich von solcher Daten-Lesart blindlings leiten lassen. Übrigens fiele nach solchem Muster mutmaßlich sofort ein Großteil, wenn nicht sämtliche Berichterstattung aus Gemeinderäten oder dem Kreistag durchs Raster. Für die demokratischen Strukturen vor Ort wären die Konsequenzen verheerend. Anders sieht es aus, wenn die Datenanalyse Ansatzpunkte dafür liefern kann, die Aufbereitung wichtiger, aber spröder Themen attraktiver hinzubekommen. Im Idealfall erreicht ein solcher Text dann mehr Leserinnen und Leser, sein höherer Lese- und Nutzwert schlägt sich in Wertschätzung für die Zeitung nieder.

Über allem steht allerdings das Bekenntnis zur Regionalität, und das sage ich nicht nur, weil Ralf Dahrendorf, der Namensgeber unseres Preises, als langjähriger Berater der Badischen Zeitung ein solches Bekenntnis immer wieder gegenüber Redaktion und Verlag hochgehalten und eingefordert hat. Regionalität vereint heute mehr denn je Heimat und weite Welt. Längst hat die Globalisierung das letzte Schwarzwalddorf durchdrungen. Längst verdienen Firmen aus Südbaden ihr Geld in Amerika, Japan oder China. Und nachdem das Coronavirus den Alltag der Menschen rund um den Globus aus den Angeln gehoben hat, könnte die menschengemachte Erderwärmung die Welt bald in noch größeres Unheil stürzen - ob in der Arktis oder am Kaiserstuhl.

Es ist die Aufgabe von uns Medien, die Menschen in ihrem Informationsbedürfnis dort abzuholen, wo sie sich aufhalten: in ihren konkreten Lebenswelten, geprägt von lokalen Bezügen, aber angesichts hoher Mobilität und Digitalisierung zugleich weitläufig und offen, dann wieder gerade ob dieser Offenheit sorgsam bedacht auf Identität und heimatliche Verwurzelung.
Einfach ist das nicht. Aber jede Mühe wert. Und durchaus aussichtsreich, wenn Redaktionen hart an sich arbeiten - und ihnen die Verlage die Möglichkeiten dazu geben.

Absehbar ist, dass die journalistischen Inhalte immer wichtiger werden, nicht nur publizistisch, auch wirtschaftlich, und zwar gleichgültig über welche Kanäle sie verbreitet werden. Das setzt den Einsparpotenzialen auf Redaktionsseite Grenzen. Nicht nur das. Der fortdauernde Transformationsprozess ins Digitale, der in der Corona-Pandemie dankenswerter Weise einen enormen Schub erhalten hat, dürfte weitere Investitionen notwendig machen - in Technik, Software und Spezialisten, von denen es aktuell in vielen Medien-Unternehmen, nicht nur in Redaktionen, einfach zu wenige gibt.

Zugegeben, das klingt erst mal teuer. Aber ich bin sicher, es lohnt sich. Für die Zukunft des Journalismus, für die Perspektiven unabhängiger Medien, aber letztlich vor allem für die Zukunft unseres Gemeinwesens, den Erhalt und die Stärkung der Demokratie.

Danke, dass Sie mir zugehört haben.