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Ralf Dahrendorf als Journalist

Wenn einer von sich denkt, er könne alles Mögliche werden, dann ist er als Journalist gerade richtig. Ralf Dahrendorf ist Zeit seines Lebens Journalist gewesen. Sein erstes Geld, so vertraute er den Teilnehmern des Lokaljournalistenkongresses 2003 in Freiburg an, habe er am 23. April 1946 als Journalist beim damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg verdient. Wissenschaftler ist er erst später geworden.
Doch am Anfang stand bei ihm nicht das gedruckte, sondern das gesprochene Wort. Die Premiere fand in einer Radio-Diskussionsrunde statt. Und, so erfahren wir in seinen Lebenserinnerungen "Über Grenzen", es ging um das Thema "Jugend und Kirche". Ausgerechnet. Jugendlicher war er mit damals knapp 17 Jahren zwar gewiss. Und dass er damals schon eloquent war, mag die Tatsache unterstreichen, dass die Rolle des Jugendlichen danach in vielen weiteren Diskussionen erneut mit ihm besetzt wurde. Aber die Welt des Glaubens war ihm eher suspekt. Sie passte nicht zu der eines rational denkenden Intellektuellen.

Schon damals faszinierte ihn die britische Art. In Hamburg war Hugh Carleton Green Intendant, der später Generaldirektor der BBC werden sollte. Er brachte dem jungen Dahrendorf die Werte und Erfahrungen der Mutter aller Radiosender nahe, wie die BBC von Generationen von Journalisten empfunden wurde. Später fand er lange auch die britischen Zeitungen vorbildhaft. Sie gehörten bis zuletzt zu seiner regelmäßigen Lektüre, obschon die Boulevardisierung der britischen Medien in den vergangenen 15 Jahren ihn gegen Ende wieder lieber zu deutschsprachigen Zeitungen greifen ließ. Selbst die "Times", nicht nur für ihn viele Jahrzehnte ein Inbegriff für seriösen Journalismus, irritierte ihn zuletzt. Aber er, der Mann des Wortes, hatte auch damit Probleme, dass die Neue Züricher Zeitung, eine seiner Leib- und Magenlektüren, plötzlich mit einem farbigen Bild auf der Titelseite erschien.

Die Zahl der Zeitungen, in denen er als Autor auftauchte, ist kaum zu übersehen. Es gab aber gewiss ein paar, zu denen er eine intensivere Beziehung pflegte. Zuvörderst natürlich die Wochenzeitung "Die Zeit", nicht nur deshalb, weil sie in seiner Geburtsstadt Hamburg erscheint. Dort publizierte er seit Beginn der 1960er Jahre regelmäßig Artikel, zunächst, da er sich damals vor allem mit Bildungspolitik beschäftigte, im Feuilleton, später in der Politik und zuletzt auch in der Wirtschaft. 1978, damals war er Direktor der London School of Economics, wäre er fast Herausgeber in Hamburg geworden. Die Zeit spielte damals mit dem Gedanken, die Leitung des Blattes nach dem Muster der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als ein Herausgebergremium zu organisieren. Dahrendorf sollte einer dieser Herausgeber werden, obschon er, wie er später schrieb, in seiner damaligen Funktion in London "ausgefüllt und zufrieden" gewesen sei. Das Projekt zerschlug sich, aber irgendwie trauerte Dahrendorf dieser Aufgabe bis zu seinem Tode hinterher. Helmut Schmidt, der später Herausgeber werden sollte, hat er deshalb immer ein wenig beneidet. Auch wenn er das, darauf angesprochen, wahrscheinlich brüsk zurückgewiesen hätte.
Seine, wie er selbst schrieb, zweite journalistische Versuchung, ereilte ihn 1992 in England in Form der neu gegründeten sozialliberalen Zeitung "The Independent". Dahrendorf wurde dort, im Gefolge alter Freunde, wie dem Chef der italienischen Zeitung "la Republica", Eugenio Scalfari, und Juan Luis Cebrian von der Zeitung "El Pais" in Madrid, die dem finanziell kränkelnden Londoner Blatt halfen, Vorsitzender des Aufsichtrates. Die Aufgabe währte freilich nur ein Jahr. Dann wurde die Zeitung verkauft. Und die neuen Eigentümer hatten andere Pläne als Ralf Dahrendorf.

Geschrieben hat er danach weiter, für viele Blätter in Europa, auch in den neuen Demokratien. Insbesondere zu polnischen Medien unterhielt er bis zuletzt enge Kontakte. Aber vor allem in seinem letzten Jahrzehnt lernte er die deutschen Regionalzeitungen schätzen. Das mag daran liegen, dass er beobachtete, wie die wachsende Globalisierung viele Menschen dazu bringt, sich ihrer lokalen Wurzeln zu versichern. Das hatte gewiss auch damit zu tun, dass er in seinem Bonndorfer Domizil, in das es ihn seit seiner Zeit an der Universität Konstanz regelmäßig zog, den Stellenwert der Regionalzeitung erspürte. Erst spät hat er sich freilich intensiver damit beschäftigt, dann aber wiederholt das hohe Lied auf diese derutsche Zeitungsgattung gesungen, zuletzt bei der Jahrestagung des Verbandes der südwestdeutschen Zeitungsverleger (VSZV) 2006 am 28. April 2006 in Freiburg.

Dass es ihn zur Regionalzeitung zog, lag gewiss auch daran, dass er mit Christian Hodeige einen Schüler an der London School of Economics kennenlernte, den er später als dieser Gesellschafter und Herausgeber der Badischen Zeitung geworden war, als Freund beriet und der ihm, vor allem in den gesundheitlich schwierigen letzten Jahren eine wichtige Stütze war.

Aus freundschaftlichen Gesprächen mit dem Gesellschafter wurde Ende der neunziger Jahre zunächst ein intellektueller Diskurs mit dem damaligen Chefredakteur Jürgen Busche und später eine väterliche Freundschaft zu dessen Nachfolger und größeren Teilen der Redaktion. Dahrendorf war regelmäßig Gast in der Redaktionskonferenz im Freiburger Pressehaus. Dort und beim Essen im "Colombi" oder im "Hirschen" in Merzhausen, diskutierte er gerne und neugierig über die Themen der Zeit und die Situation der Zeitung. Stets wollte er dabei zuerst die Neuigkeiten aus der Zeitung erfahren. Er stellte Fragen, bevor er sich befragen ließ. Und seine Einschätzung war gefragt. Auch die als regelmäßiger Autor von Leitartikeln.

Die entstanden meist nach einem strengen Ritual. Dahrendorf drängte sich nie auf, sondern wartete stets auf den Anruf des Chefredakteurs. An der Begrüßung war meist schon zu erahnen, ob ihm selbst ein Thema auf den Nägeln brannte, oder ob er darauf gespannt war, was man von ihm erwartete. Auch ob er Zeit und Lust hatte zu plaudern, konnte man der Art der Begrüßung meist entnehmen. Dann entspann sich ein Gespräch über die wichtigsten aktuellen Themen, aus dem er meist plötzlich zu der Frage kam, was er denn schreiben solle. Nicht, dass er für jedes Thema zu haben gewesen wäre, beileibe nicht. Gerne erklärte er den Lesern in Südbaden die Eigenarten seiner geliebten Wahlheimat Großbritannien. Ungern beschäftigte er sich mit dem dortigen Königshaus. Gerne schrieb er über Europa, auch wenn er an der Brüsseler Bürokratie fast verzweifelte und ein Europa ohne Brüssel immer mehr zu einem fixen Traum wurde. Gerne blickte er aus seiner Inselperspektive auf die deutsche Innenpolitik. Zur FDP und deren Entwicklung aber wollte er sich am liebsten überhaupt nicht öffentlich äußern. Mit ihr, für die er lange Politik gemacht hatte, fühlte er sich zuletzt nur noch über die Friedrich-Naumann-Stiftung verbunden. Wichtig war ihm Zeit seines Lebens immer die Bildungspolitik. Ihr widmet er auch wesentliche Teile seiner letzten großen Untersuchung als Chef einer Zukunftskommission für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers und zuvor in seiner Rede auf einem Symposium des Baden-Württembergischen Wissenschaftsministeriums im Februar 2009. Auch nahm er gerne Amerika zu Zeiten in Schutz, als weite Teile der Öffentlichkeit an der Politik des Verbündeten verzweifelten. Was nicht heißt, dass er ein blinder Verehrer der USA gewesen wäre. Aber er schätzte den Optimismus, die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Kraft, aus Krisen immer wieder gestärkt hervorzugehen. Zu Israel dagegen schwieg er am liebsten, zumindest als Autor. Obschon er sich als Freund des Volkes fühlte und in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheiratet war. Immer mehr Freunde Israels seinen in den letzten Jahrzehnten verstummt, sagte er einmal. Er selbst sah sich wohl in dieser Reihe.

Was beschäftigte ihn noch? Natürlich alle Fragen die sich mit den Institutionen und der Verfasstheit von Gesellschaften auseinandersetzten. Spannend war für ihn zum Beispiel die Einführung des Euro. Persönlich hielt er die europäische Währung bis zuletzt für eine falsche Entscheidung. Da war er ganz Brite. Und durch die aktuelle Entwicklung in Griechenland würde er sich wahrscheinlich bestätigt sehen. Aber die Einführung dieser Gemeinschaftswährung weckte in ihm zugleich die Neugier des Sozialwissenschaftlers. In den ersten Tagen des Geldumtausches hatte er deshalb in der Bonndorfer Sparkasse einen Beobachtungsposten bezogen, um zu ergründen, wie die Menschen auf die neue Währung reagierten. Unvergessen seine Schilderung von einer älteren Dame, die ein Sparschwein mit D-Mark-Beständen zum Umtausch brachte und am Ende schüchtern nachfragte, ob sie denn noch mehr davon bringen dürfe.

Dahrendorf war bei der Wahl seiner Themen also durchaus wählerisch. Meist musste man deshalb zumindest zwei in petto haben, um ihn zumindest von einem zu überzeugen. Manchmal entwickelte sich aus dem Gespräch auch ein gänzlich anderes. Wiederholen wollte sich Dahrendorf dabei ungern. Ein Thema, über das er in einer anderen Zeitung schon geschrieben hatte, war für ihn meist erledigt. Dann war es schwer, ihn davon zu überzeugen, dass dies die Leserinnen und Leser der Badischen Zeitung womöglich völlig anders sahen, weil die wenigsten seine Arbeiten für andere Zeitungen regelmäßig verfolgten.

Ob er ein Thema mochte oder nicht, war im Gespräch rasch klar. Es zeigte sich dann auch im Tempo der Umsetzung und in der Brillanz des Artikels. Manchmal kam der Text schon wenige Stunden später aus dem Fax, getippt auf der manuellen Schreibmaschine, allfällige Korrekturen säuberlich zwischen die Zeilen getippt. Manchmal dauerte es aber auch Tage. Und in einem Fall wurde einem erst Tage später bewusst, dass man ihn zu einem Thema überredet hatte, zu dem er eigentlich keine Lust hatte. Wir haben uns dann auf ein anderes Thema verständigt.

m Laufe der Zeit gab es dann auch zunehmend Telefonate, bei denen es nicht um seine Leitartikel ging. Sie fanden vor allem dann statt, wenn der Autor mal wieder über ein Thema grübelte und nicht so Recht vorankam. Nicht dass Dahrendorf den Text dann diktiert hätte. Gewiss nicht. Er drängte seine Meinung niemand auf. Er half im Gegenteil durch gezielte Fragen die eigene Position zu verklaren. Dass man dann vielleicht zu einer anderen Position kam als er, hat er registriert und zuweilen dann auch angemerkt. Kritisiert hat er nur, wenn ihm die Begründung zu dünn erschien.

So angenehm und unprätentiös er als Gesprächspartner war, eine spitze Zunge und kleine Eitelkeiten waren ihm nicht fremd. Nicht nur dann, wenn man Understatement als liebenswürdigste Form der Eitelkeit betrachtet. Wie wichtig es ihm zum Beispiel war, eigenständig zu sein und möglichst ohne Hilfe auszukommen, mag eine Szene bei einem seiner letzten Besuche in Freiburg verdeutlichen. Dahrendorf war nach einer längeren Krankheit wieder einigermaßen zu Kräften gekommen und saß nach einer anregenden Diskussion mit einigen Journalisten bei einem guten Essen im "Drechsler" in der Freiburger Rosastraße. Am Ende wollte er sich verabschieden, um zu Fuß ins nahe "Colombi" zu gehen. Die Journalisten boten an, ihn zu begleiten. Er willigte ungern ein, um sich an der Ecke Rotteckring erneut von ihnen zu verabschieden. Es war ihm einfach wichtig, alleine ins Hotel zurückzukehren. Gebracht zu werden hätte er in diesem Moment als Schwäche empfunden.

Für die Badische Zeitung hat er bis kurz vor seinem Tode geschrieben. Sein letzter Leitartikel hatte den Titel "Apathie und Volkszorn" und beschäftigte sich mit den Folgen der Finanzkrise auf die Gesellschaft. Seine These, dass es 2009 unwillige Wahlen geben werde, auf deren Ergebnis sich keine stabile Regierung aufbauen lasse, erfüllte sich anders als er erwartet hatte. Die Frage, ob die Folgen der Finanzkrise die Menschen in Apathie oder Rebellion treiben würden, hat ihn bis zuletzt umgetrieben auch wenn er das revolutionäre Potential er als gering erachtete. Seine letzte öffentliche Rede widmete sich dieser Frage und der Rolle des "straddlers", jener Menschen, die wie Dahrendorf es formulierte "rittlings auf der Grenze zwischen Geist und Tat" sitzen. Er beschrieb damit auch seine Rolle, die des Intellektuellen, der sich einmischt in die Gesellschaft. Dazu muss er nicht nur Wissenschaftler oder Politiker sein, sondern auch Journalist, einer, der die Dinge übersetzt für ein interessiertes Publikum. Dahrendorf war alles drei. Viele wie er gab es in Deutschland nicht. Und es kommen immer weniger nach.

Der Zeitungsmensch

Quelle:
Der Zeitungsmensch: Auf den Spuren von Lord Dahrendorf in Südbaden


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