Laudatio Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus 2021

3. Preis: Sven Wagner, Südthüringer Zeitung

Gehalten von Dr. Berthold Hamelmann, stellvertretender Chefredakteur Neue Osnabrücker Zeitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir verleihen heute hier in Freiburg die Lord-Dahrendorf-Preise für ausgezeichneten Lokaljournalismus des Jahres 2021. Um gar nicht den Versuch zu unternehmen, einen künstlichen Spannungsbogen aufzubauen, gleich ein Ergebnis vorweg: Mit dem dritten Platz zeichnen wir Sven Wagner von der Südthüringer Zeitung aus. Sein Doppelbeitrag wurde am 31. März 2021 auf der Titelseite und der dritten Seite („Thüringen und Deutschland“) publiziert. Erzählt wird die Geschichte eines ehrenamtlichen Bürgermeisters, der plötzlich in der Querdenker-Szene auftaucht und nach mutmaßlichen radikalen und menschenverachtenden Beiträgen in einem Chat-Kanal von der Kommunalaufsicht seines Amtes vorläufig enthoben wurde.

Klammer auf: Dass der Bürgermeister unmittelbar nach seiner Amtsenthebung gegenüber anderen Medien davon sprach, die Vorwürfe gegen ihn seien „stark überzogen“ und er selbst habe seinen Rücktritt eingereicht, soll an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden. Einfluss auf das Urteil unserer Jury besaßen diese Umstände nicht. Bewertet wurden die zwei Beiträge. Klammer zu.

„Da wird der Bürgermeister wohl seine Umzugskartons packen müssen“, schoss es mir bei der ersten Lektüre der beiden Artikel unseres Preisträgers durch den Kopf. Es ist schon ein unerhörter Vorgang von hoher öffentlicher Relevanz, den Sven Wagner exklusiv aufdeckte.

Ein ehrenamtlicher, fast euphorisch gestarteter Bürgermeister einer 500 Einwohner zählenden Rhöngemeinde - durchaus mit höheren politischen Ambitionen - vollzieht eine bemerkenswerte Entwicklung. Er landet in der sogenannten „Querdenkerbewegung“, macht sich deren Gedanken zu eigen und verbreitet über den Messengerdienst Telegram nicht nur demokratiefeindliche, sondern auch menschenverachtende Inhalte.

Ein Fall für die in unserer Demokratie an dieser Stelle funktionierende Kommunalaufsicht und die Ermittlungsbehörden, die die Chat-Beiträge auf strafrechtliche Relevanz prüften.

Zuvorderst aber machte sich ein Lokalredakteur auf den Weg. Mit Akribie, journalistischer Weitsicht, investigativer Recherche und hohem Zeitaufwand griff Sven Wagner einen anonymen Hinweis auf, der als Quelle in Zeiten von Fake News von jeder Redaktion besonders sensibel bewertet wird.

Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Die Qualität eines exzellenten journalistischen Textes misst sich nach wie vor auch in unserem digital bestimmten, ja ausgerichteten Zeitungsalltag - sorry, besser wäre wohl der Begriff Medienalltag - an der Beantwortung dieser W-Fragen. Sie gehören mit Fug und Recht immer noch zum handwerklichen Basisrepertoire eines jeden Reporters, einer jeden Reporterin. Derart fundierte Berichte tragen übrigens maßgeblich zur hohen Glaubwürdigkeit bei, die die gedruckte Zeitung in weiten Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor genießt.

Sven Wagner ist auf Spurensuche gegangen und hat sich dabei nicht im Labyrinth von Informationsschnipseln verirrt. Hier bringt ein Journalist quasi ein aktuelles Sittengemälde unserer Republik zu Papier - ohne zu verurteilen. Der rote Faden ist die Person des Bürgermeisters. Notwendige Öffentlichkeit wird hergestellt – die Rückschlüsse und Bewertung soll und kann anhand der beweisbaren Faktenlage die geneigte Leserschaft selbst ziehen.

Der Beitrag ist keine Kuschelgeschichte, die sich in Zeiten von Social-Media über diverse Kanäle blitzschnell weltweit verbreitet und Klick-Rekorde einfährt. Nein, es ist ein Beitrag von hoher gesellschaftlicher Relevanz, der anhand eines inhaltlich und sprachlich sehr gut aufbereiteten Sachverhalts die Bedeutung von (Lokal-)Journalismus in einer Demokratie unterstreicht, die nun wirklich kein Selbstläufer ist.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen kam Anfang Oktober in einem Gastbeitrag zum 150jährigen Bestehen einer nordrhein-westfälischen Zeitung zu folgender Erkenntnis: In der aktuellen Übergangsphase einer laufenden Kommunikationsrevolution benötigten Demokratien „Spagat-Medien“. Diese seien tatsächlich systemrelevant - gerade weil es schwieriger werde, einen Fokus gemeinsamer Themen zu bilden. Öffentlichkeit sei „der Lebensraum einer liberalen Demokratie, der vor dem daten- und klickzahl-getriebenen Kult der Irrelevanz, den Politik-Clowns (…) und den Desinformationsspezialisten geschützt werden muss“.

Der Beitrag von Sven Wagner wird diesem Anspruch gerecht.

Als Juror erlaube ich mir zum Schluss jenseits der eigentlichen Laudatio eine Bemerkung, die nichts mit der Qualität bzw. dem Zustandekommen unseres Jury-Urteils zu tun hat. Es geht um die Zukunft der Tageszeitung. Und hier spricht mir Prof. Pörksen aus der Seele, wenn er formuliert: „… die Tageszeitung tut gut daran, den Modus ihrer unvermeidlich verzögerten Produktion als eine Stärke zu begreifen. Sie ist idealerweise ein Medium des zweiten Gedankens und kann das Wettrennen um den Aktualitätspokal (…) ohnehin nicht gewinnen. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, das Orientierungswissen immer wichtiger wird und das hektisch zuckende Live-Ticker und ein Schnappatmungs- und Stichflammen-Journalismus (…) für niemanden wirklich hilfreich sind.“ Der heute mit dem dritten Platz ausgezeichnete Lokalredakteur hat dieses Orientierungswissen geliefert und damit neben den Anforderungen des Lord-Dahrendorf-Journalistenpreises auch ein von Prof. Pörksen formuliertes Ziel umgesetzt. Folgt daraus, dass Sven Wagner eigentlich zwei Preise verdient hat?

Ich glaube, es ist besser, wenn ich meine Laudatio hier beende und in den verdienten Applaus für Herrn Wagner einstimme: Gratulation zu Ihrer überzeugenden Arbeit!