zurück

Regionalzeitungen, die prägende Kraft (22.01.2003)

Sie stiften Identität und sind ein Spiegel der Gesellschaft -
Lobrede auf ein tägliches Brot

Ich bin ein lebenslanger Zeitungsmensch. Mein erstes Geld habe ich vor 57 Jahren als Journalist verdient, beim Nordwestdeutschen Rundfunk und dann bei diversen Zeitungen - in Hamburg zunächst, dann darüber hinaus. Bis heute lese ich gerne viele Zeitungen, darunter eine Regionalzeitung. Das Beste, was ich Ihnen bieten kann, sind also ein paar Betrachtungen eines Regionalzeitungslesers, genauer, sieben solcher Betrachtungen.

Erstens: In Deutschland sind fast alle Tageszeitungen Regionalzeitungen. Auch die so genannten überregionalen Zeitungen haben ihr zentrales Absatzgebiet rings um eine Stadt. Die deutsche Presse ist eine regional geprägte Presse. Das gilt auch in manchen anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz, auch in den Vereinigten Staaten. Wer je Zeit in San Francisco zugebracht hat und versucht hat, die New York Times zu kriegen, weiß, dass das eine gewisse Anstrengung erfordert, und einen ziemlich hohen Preis. Es gibt auch Länder, in denen das nicht gilt. Zum Beispiel das Land, in dem ich lebe: England. Ich sage nicht Großbritannien, denn die Londoner Zeitungen sind in Edinborough und Glasgow eher Fremdkörper, die dann auch mit etwas anderen Ausgaben dort erscheinen. In Frankreich gilt es nur in begrenztem Maße, dass Zeitungen Regionalzeitungen sind. Dort gibt es regionale Unterschiede. Und in Italien sind Zeitungen eigentlich nationale Zeitungen, die dann versuchen durch einen Teil über Mailand oder über Rom einen gewissen regionalen Akzent zu setzen.
Die Tatsache, dass fast alle Zeitungen in Deutschland Regionalzeitungen sind, spiegelt die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen, die die Menschen im Land empfinden. In Deutschland sind Menschen zunächst geprägt durch die regionale Umwelt, in der sie leben. Es ist ja auffällig, dass Regionalzeitungen in Ländern verbreitet sind, in denen es keine tonangebende Hauptstadt gibt. Deutschland hat keine tonangebende Hauptstadt und hatte in seiner Geschichte fast durchweg keine. Eigentlich ist die einzige Periode, in der es eine wirklich tonangebende Hauptstadt gab, die Nazizeit gewesen, in der es daher auch, wenn man so will, nationale Zeitungen gab. Aber im angeblichen "deutschen Zeitungsparadies", der Weimarer Republik, kann man keine Berliner Zeitung finden, die hier in Freiburg ebenso wie in Hamburg oder in Köln oder in Leipzig die beherrschende Zeitung gewesen wäre. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen einem hohen Maß an Dezentralisierung mit auch dezentralisierten Zugehörigkeitsempfindungen der Menschen und der Struktur der Zeitungslandschaft, die diese politisch-gesellschaftliche Landschaft reflektiert.

Daraus kann man schließen: Regional geprägte Zeitungen sind in Deutschland nötig und bleiben es. Jedenfalls, so lange man nicht davon ausgeht, dass sich an diesem Bild etwas völlig ändert. Obwohl ich wie viele andere zu denen gehöre, die gerne nach Berlin fahren, und obwohl ich weiß, dass im Ausland - gerade auch in Großbritannien - das neue Berlin eine magnetische Anziehungskraft hat, sehe ich keine Anzeichen dafür, dass Berlin in dem Maße zu einem prägenden Zentrum der deutschen Dinge wird, wie es London für England und in weitem Maße für Großbritannien oder Paris für Frankreich ist. Also. Regionalzeitungen sind einfach das Spiegelbild einer bestimmten Struktur des Landes.

Zweite Betrachtung: Tiefe Zugehörigkeiten von Menschen sind auch heute noch sowohl regional als auch national. Wir sind hier in einem Dreiländereck, und es gibt mancherlei Zusammenarbeit zwischen Freiburg, Straßburg und Basel: Die für die Erhaltung der großen Münster oder Kathedralen Verantwortlichen arbeiten eng zusammen, dasselbe gilt für viele andere Gruppen. Und trotzdem: Die Badische Zeitung, die Basler Zeitung und die Dernières Nouvelles d'Alsace sind drei Welten. Zwar kann man in ihnen manches lesen über die angrenzenden Gebiete, und unter den Veranstaltungshinweisen findet sich manches aus allen drei Ländern. Aber im Kern sind sie drei Welten. An den Medien jedenfalls kann man nicht ablesen, dass es ein einheitliches Europa gibt. In der Tat sind Medien vielleicht sogar der stärkste Ausdruck der spezifischen Eigenschaften der verschiedenen Länder und Regionen. Die einzigen wirklich europäischen Tageszeitungen sind die Herald Tribune und vielleicht noch die Financial Times. Sie sehen aber Europa aus einer gewissen Vogelperspektive, die manches verwandt scheinen lässt, was dort, wo Menschen leben, so verwandt gar nicht ist. Das heißt, es gibt nach wie vor die tief sitzenden kulturellen Unterschiede. Insofern würde ich sagen, die wahren Volkszeitungen sind in Deutschland die Regionalzeitungen. Und das scheint mir ein weiterer wichtiger Aspekt zu sein, auch in einer Zeit, in der die politische Thematik diese regionale Bindung weit überschreitet.

Das führt mich zur dritten Bemerkung: Diese Regionalzeitungen haben unzweifelhaft eine hohe Qualität. Es gibt viele Leser übrigens, für die die Regionalzeitung die einzige Zeitung ist - ein Aspekt, der in manchen Kreisen nicht genug berücksichtigt wird. Wenn man das bedenkt, ist die Breite der Informationen, die Regionalzeitungen liefern, schlicht erstaunlich. Ich habe mir vor ein paar Tagen einmal eine Ausgabe der Zeitung, die ich täglich lese, genau angesehen. Auf den Auslandsseiten waren größere Stücke über Brasilien, Nord-Korea, Spanien und Israel, kleinere über die USA und die Türkei. Dazu kommen der Inlandsteil, der im engeren Sinn regionale Teil sowie Kultur, Sport und das wichtige Lokale, das allein schon eine Zeitung füllen könnte. Jedenfalls dann, wenn man dem Prinzip folgt, das ich gelegentlich für Lokalzeitungen formuliert habe - Herr Hauser mag dem nicht so ganz zustimmen -, dass nämlich im Grunde genommen jeder zehnte Name in den Gemeinden, in denen die Zeitung gelesen wird, einmal im Jahr in der Zeitung erscheinen sollte, und zwar vorzugsweise schon bevor die Nachrufe kommen. Noch besser ist es natürlich, wenn eine beträchtliche Zahl nicht nur mit Namen, sondern auch mit einem Foto erscheint.

Vierte Betrachtung: In dieser Funktion und in dieser Qualität liegen besondere Aufgaben für Journalisten. Sie müssen etwas leisten, das sehr schwer, wenn nicht unmöglich ist. Sie müssen Teil der Debatten sein, die sich in der weiteren Welt vollziehen und verstehen, was da vor sich geht, und sie müssen dennoch wissen, dass sie für eine Welt schreiben, in der dieser Bezug keineswegs selbstverständlich ist, in der er überhaupt erst hergestellt werden muss. Das gelingt nicht immer. Und es ist manchmal eine schwierige Frage, ob eine Zeitung, die sich bewusst auf eine Region konzentriert, dort mehr belehrend über die weitere Welt schreiben soll, oder sich in noch stärkerem Umfange konzentrieren soll auf das Regionale und Lokale. Wichtig ist hier, wie so oft, die richtige Mischung, und das bedeutet wahrscheinlich, für Journalisten die richtige Mischung von ehrgeizigen Jüngeren und erfahrenen Älteren. Da haben Regionalzeitungen eine besondere Funktion. Umso mehr, als man nicht davon ausgehen kann, dass der redaktionelle Stab einer Zeitung über lange Zeiträume hin stabil ist. Vielleicht sollte er es auch gar nicht sein. Vielleicht ist diese spezielle Mischung von Talenten auch eine Leistung, die nur erbracht werden kann, wenn es einen gewissen Wechsel gibt.

Fünfte Beobachtung: Im ursprünglichen Titel dessen, was ich hier sagen wollte, war die Rede von der Besitzgesellschaft. Es ist kein Begriff, den ich sehr häufig verwende, insbesondere bin ich nicht der Meinung, dass der Begriff der Besitzgesellschaft in angemessener Weise die zentralen Veränderungen unserer Gesellschaft beschreiben kann. Für mich ist etwas anderes auffällig, nämlich das Ausmaß, in dem in unseren Gesellschaften zwei Dinge auseinander fallen, die wir beide brauchen. Der britische Ökonom Adair Turner hat sie mit zwei englischen Ausdrücken sehr gut beschrieben. Wir brauchen Hightech, und wir brauchen das, was er Hightouch nennt. Das eine sind die Bereiche, in denen ein gesteigertes Maß an Information und Fähigkeit zur Aufnahme weiterer Informationen vorhanden ist, das andere die weiten Bereiche, in denen Menschen nach wie vor Hand anlegen müssen.

Es ist übrigens daher auch ein fundamentaler Irrtum, eine öffentliche Bildungspolitik nur darauf anzulegen, dass die Hightech-Bedürfnisse befriedigt werden. Ein solches Programm führt am Ende dazu, dass viele der Hightouch-Bedürfnisse gar nicht mehr befriedigt werden. Oder an diesem Punkt setzt ein Prozess der Zuwanderung ein, der generell wünschenswert sein mag, der aber aus diesem Grunde nur sehr begrenzt Sinn hat. Ich bin mir darüber im Klaren, dass in Deutschland auch die Zuwanderung mit Hightech-Erfordernissen begründet worden ist, das habe ich aber immer für eine eher abwegige Einstellung gehalten, die sehr wenig hergibt, die tatsächliche Zuwanderung befriedigt die Hightouch-Bedürfnisse, die Berufe, bei denen man Hand anlegen muss, und die Einheimische sehr oft nur mit Zögern oder gar nicht mehr annehmen. Das wird oft unterschätzt - außer wenn man einen Klempner braucht, oder gerne ein bisschen mehr Flexibilität in der örtlichen Gaststätte hätte oder im Krankenhaus ist oder sonst wo. Es wird oft unterschätzt, in welchem Maße Menschen Dinge tun müssen, die nötig sind und in keiner Weise durch Maschinen ersetzt werden können. Das bedeutet, dass neben der Welt des Internets viel Raum für andere Tätigkeiten bleibt. Das wiederum bedeutet, dass das Mehr von Informationen, das prinzipiell verfügbar ist, tatsächlich zugänglich gemacht werden muss. Es ist nicht genug zu sagen, "man kann ja alles erfahren und alles wissen", wenn man die technischen Möglichkeiten der heutigen Informationswelt sich zunutze macht. Vielleicht ist überhaupt eine Kernaufgabe derer, die zwischen den Informationen Schaffenden und den Informationen Konsumierenden stehen, das Zugänglichmachen aus dieser Fülle der Informationen, die Aufbereitung. Ich glaube, dass hier die für viele einzige Zeitung eine ganz enorme Funktion und Verantwortung hat - eine Funktion und Verantwortung, die auch nicht schwinden wird, sondern eher stärker werden wird, in dem Maße, in dem man alles irgendwie erfahren kann. Und so würde ich meinen, dass in dieser halb Wissens- und halb Tuns-Gesellschaft die Aufbereitung von Information, die Schaffung von Strukturen des Verständnisses, eine Kernaufgabe, aber auch eine enorme Verantwortung ist, und natürlich ganz besonders dann, wenn Zeitungen die einzigen sind, die an ihrem Ort verfügbar sind.

Sechste Bemerkung, und die mache ich ganz kurz: Zeitungen leben nicht nur von dem, was in ihnen geschrieben wird. Gerade die Situation, in der wir jetzt sind, zeigt ja, dass steigende Auflagen unter Umständen mit sinkender Wirtschaftlichkeit Hand in Hand gehen können. Zweifellos haben Anzeigen in Zeitungen da eine besondere Rolle. Ich bin in dieser Frage kein Experte, aber es ist mein Eindruck aus vielen Gesprächen mit anderen Zeitungslesern, dass trotz aller Gratisblätter und anderer verfügbarer Medien, insbesondere auch trotz des Internets, Anzeigen, gerade Kleinanzeigen, wichtig bleiben, dass Zeitungen hier eine ganz besondere Aufgabe haben, und dass viele davon typischerweise regional sind. Ich sehe also in einer gezielten Anzeigenpolitik - die sich nicht darauf verlässt, dass es noch einmal eine große Seifenblase der neuen Ökonomie gibt, sondern auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen eingeht - einen Erfolg versprechenden Weg. Auf dieser Grundlage könnten die Regionalzeitungen, deren Loblied ich hier singe, auch auf lange Sicht Bestand haben.
Dennoch, und dies ist meine siebte und letzte Bemerkung, ist evident, dass viele Regionalzeitungen heute unter Druck sind. Das gilt insbesondere für Familienunternehmen, die schlicht ein, zwei Jahre hoher Verluste nicht auffangen können. Und das hat zur Folge, dass im Zeitungsbereich wie in anderen Bereichen, ein Prozess der Allianzen und der Übernahmen eingesetzt hat.

Manchmal habe ich die Vision, dass es nur noch ganz wenige in Deutschland gibt, die den Mantelteil der Zeitung produzieren, ergänzt um lokale Monopole, also eine Art Generalanzeiger-Presse mit wenigen Generälen. Das ist durchaus nicht ideal. Ich bin jedenfalls ganz froh, wenn ich - wie ich das neulich an einem Tag erlebt habe - unter den "Stimmen der Anderen" in einer überregionalen Zeitung Zitate finde aus der Südwestpresse Ulm, der Thüringer Allgemeinen, der Neuen Osnabrücker Zeitung, der Allgemeinen Zeitung Mainz, dem Darmstädter Echo und der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Und ich würde es sehr bedauern, wenn in zehn Jahren das, was zitierwürdig ist, nur noch an zwei, drei Stellen erscheint, und dann überall reproduziert wird.

Mir scheint, die Aufrechterhaltung der regionalen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Zeitungen ein Stück der Aufrechterhaltung jener spezifischen, in sich dezentralen - und übrigens dadurch auch innerlich kräftigen - Gesellschaft, die es in Deutschland gibt. Jedenfalls ist zu vermeiden, dass die Zeitungen einer Mode folgen, die viele andere Wirtschaftsbereiche jahrelang ergriffen hatte, nämlich der Wende von der Zeit vor 30 Jahren, als man sagte "small is beautiful", hin zu der Vorstellung "big is beautiful", einer ganz merkwürdigen modischen Wendung, die auch wieder ein Ende nehmen wird, und die im Falle der Zeitungen nach meinem Eindruck nur bedauerliche Folgen haben kann.

Mein Resümee also ist: Die Regionalzeitung ist nach wie vor die prägende Kraft einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise dezentral strukturiert ist. Wenn sie verloren ginge oder schwächer würde, würde das diffusere gesellschaftliche Ordnungen einerseits dokumentieren und andererseits schaffen. Vergessen wir nie, dass in einer globalisierten Marktumwelt Differenzierung ein eher größerer Wert ist, und dass daher das, was manchmal "Glokalisierung" genannt wird - also der gleichzeitige Prozess der Globalisierung bestimmter Entscheidungen und wirtschaftlicher Initiativen und der Lokalisierung anderer Tätigkeiten - ein Gewinn für alle ist. Was mich betrifft, so möchte ich nicht nur bis ans Ende meiner Tage, sondern auch für die nächste und übernächste Generation wissen, dass starke Regionalzeitungen das Bild der Presselandschaft prägen.

- Dies ist eine sprachlich leicht geglättete Fassung der Rede, die Ralf Dahrendorf anlässlich des Forums Lokaljournalismus der Bundeszentrale für politische Bildung in Freiburg gehalten hat, an dem Vertreter von Regionalzeitungen aus ganz Deutschland teilnahmen.

zurück