Laudatio Ralf-Dahrendorf-Preis für Lokaljournalismus 2019

Lobende Erwähnung: Mandy Fischer, Freie Presse Chemnitz

von Holger Knöferl

Sehr geehrte Lady Dahrendorf,
sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,
liebe Jury-Mitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,

was ist eigentlich los in unserer Gesellschaft? Da löst ein 26-jähriger Youtuber mit einem 55-Minuten-Beitrag unter dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ mehr politische Debatte aus als jeder noch so meinungsstarke Chefredakteur, ganz gleich, mit wieviel Reichweite er nun gesegnet sein mag. Und hier, in Freiburg, wo das besänftigende Tröpfchen aus Kaiserstühler Steillage allzu viel hastiger Veränderung vermeintlich Einhalt gebietet – da entthront ein bis dahin vollkommen unbekannter 33-Jähriger den arrivierten Amtsinhaber nach 16 Jahren als Oberbürgermeister. Seinen Wahlkampf hat dieser 33-Jährige vor gut einem Jahr sehr geschickt in soziale Netzwerke getragen – am Establishment dieser Stadt vorbei. Zu diesem Establishment gehören auch die Journalisten der ortsansässigen Zeitung, von denen nicht wenige für ausgeschlossen hielten, was da Wirklichkeit werden sollte.

Keine Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen, das hier wird kein Journalisten-Shaming. Schon deshalb nicht, weil die unangenehmsten Zeitgenossen heutzutage aus meiner Sicht diejenigen sind, die man im Badischen „Nachherg’scheit“ nennt – Leute also, die hinterher wissen, sie hätten schon vorher alles besser gewusst. Aber wie wäre es, ein wenig nachzudenken über die Rolle des Journalismus, wo wir uns in den Redaktionsstuben längst nicht mehr in der Rolle des Gatekeepers sonnen können und unsere Stimme mit Blick auf eine vermeintliche Deutungshoheit auch nur noch eine unter vielen ist.

Wie wäre es denn mit der Rolle der Journalisten als „Dienstleister der Bürgergesellschaft“ im Dahrendorf’schen Sinne. So wie sich die Kolleginnen und Kollegen der Freien Presse in Chemnitz verstanden haben – als es ihre Stadt zu zerreißen drohte im Spätsommer 2018. Sie erinnern sich: Zwei Asylbewerber wurden damals verdächtigt einen 35-jährigen Deutschen am Rande des Stadtfestes erstochen zu haben. Wozu ließe sich Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Zeitung in Verbindung mit vorhandener Reichweite jetzt einsetzen, überlegte sich die Redaktion. Und schuf eine Plattform für Bürgerdialog. „Chemnitz diskutiert“ stand dabei für die Grundannahme, dass der andere in der Gesprächsrunde recht haben könnte. Die engagierte Helferin im Flüchtlingskreis genauso wie derjenige, der die Merkelsche Flüchtlingspolitik rundweg ablehnt. Und die, die nie etwas sagen und doch eine Meinung haben. Sie alle – beziehungsweise Stellvertreter der jeweiligen Positionen - hat die Zeitung intensiv miteinander ins Gespräch gebracht und darüber berichtet. Es galt, Streit auszuhalten, andere Positionen anzuhören und zu akzeptieren, dass es zum Schluss keinen Konsens geben würde. Das alles gehört zur Demokratie dazu. Das alles aufzuarbeiten, zusammenzuführen, die Plattform zu bieten, den mahnenden Zeigefinger in der Tasche zu lassen, das ist zeitgemäßer Lokaljournalismus, der einem gesellschaftlichen Wandel gerecht wird. Dass es der „Freien Presse“ dann sogar gelungen ist, Bundeskanzlerin Angela Merkel in ein Diskussionsformat mit einzubinden, hat die Jury weit weniger beeindruckt, sei hier der Vollständigkeit halber aber erwähnt.

Ein Lob der Jury des Ralf-Dahrendorf-Preises für Lokaljournalismus geht deshalb an die Redaktion der „Freien Presse“ in Chemnitz. Herzlichen Glückwunsch.