Zur Person

Global Denker
von Thomas Hauser

Ralf Dahrendorf entzieht sich jeder Einordnung. Der Mann, der wie kaum ein anderer die Dinge auf den Punkt zu bringen wusste, passte in keine Schublade. Der Begriff Weltbürger würde noch am ehesten stimmen. Aber auch der wäre auf seinen Widerspruch gestoßen, setzte er doch voraus, dass es so etwas wie eine Weltgemeinschaft gibt. Die aber konnte der Sozialwissenschaftler Dahrendorf bei seiner Beobachtung der Wirklichkeit nicht erkennen, auch wenn der Sozialphilosoph in ihm allgemeine Werte und Regeln durchaus für erstrebenswert hielt. Vor allem dann, wenn es die Werte der Freiheit sind. Denn ein Liberaler war Dahrendorf gewiss, auch wenn er mit der FDP als Partei der organisierten Liberalität zuletzt lediglich noch über die Friedrich-Naumann-Stiftung verbunden war, der er einige Jahre vorstand.

Wer Dahrendorf auf die Spur kommen will, muss sich auf seine Lebenserinnerungen einlassen. Programmatisch ist da nicht nur der Titel "Über Grenzen". Wichtiger fast noch der erste Satz: "Manchmal kommt es mir vor, als ob jeder von uns ein bestimmtes Alter zeitlebens mit sich herumträgt." Dahrendorf starb am 17. Juni 2009 im Alter von 80 Jahren. In Wahrheit, so vertraute er uns in seinen Lebenserinnerungen an, sei er immer 28 gewesen. Als Erklärung zitierte er Ingeborg Bachmann: "Denn bisher hatte er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Er hat so viele Möglichkeiten für sich gesehen und er hat, zum Beispiel, daran gedacht, dass er alles Mögliche werden könne..."

Ralf Dahrendorf ist alles Mögliche geworden. Mit 28 - seinem Alter - war der Krieg schon einige Jahre zu Ende und der Sohn des SPD-Reichstagsabgeordneten und Widerstandskämpfers Gustav Dahrendorf hatte als 15-Jähriger einige Monate der Gestapohaft überstanden und nach der Befreiung in seiner Geburtsstadt Hamburg und in London studiert. 1957 bereitete er sich an der Universität des damals selbstständigen Saarlandes auf die Habilitation vor und forschte im kalifornischen Palo Alto zusammen mit einer ganzen Reihe akademischer Himmelsstürmer. Seine Doktorarbeit hatte Ralf Dahrendorf schon mit 23 verfasst.

An der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich wie in den USA stand dem jungen Soziologen die Welt offen - privat und beruflich. Seine Habilitationsschrift "Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft" wurde bald zum Klassiker. Und vor der Fakultät in Saarbrücken hielt er einen Vortrag darüber, wie es gelingen könne, die wertfreie Sozialwissenschaft mit praktischer, auf Werturteile gestützter Politik zu verbinden, ohne die Unterschiede zu verwischen. Was da sehr akademisch klingt, war die Handlungsanleitung zu Dahrendorfs Lebensthema: Er zeigte, dass es möglich ist, zwischen Theorie und Praxis hin- und herzuwechseln - ohne die Unterschiede zu verwischen - und dass man auch rittlings auf der Grenze von Sozialwissenschaft und Werturteil sitzen kann, zum Beispiel als politischer Berater.

Dahrendorf hat von dieser Erkenntnis ausgiebig Gebrauch gemacht, obschon er zunächst an seiner Karriere als Wissenschaftler feilte. In den USA hatte er nicht nur den "Homo sociologicus" geschrieben - bis heute Pflichtlektüre für angehende Sozialwissenschaftler in Sachen Rollentheorie -, sondern mit dem Historiker Fritz Stern auch einen seiner bis heute besten Freunde kennen gelernt. Danach lehrte und forschte er als Professor an der Hochschule für Gemeinwirtschaft in Hamburg, später in Tübingen und dann in Konstanz. Dabei entstand unter anderen mit "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" seine eigene Interpretation der jüngeren deutschen Geschichte.

Politisch war er quasi von Kindesbeinen an. In den 60er Jahren aber wurde der Drang zum Grenzübertritt übermächtig. Er wollte Politik machen, nicht in der SPD, der er nach dem Krieg kurze Zeit angehört hatte, auch nicht beim SDS, dem er als Student beigetreten war, sondern bei den Liberalen. 1967 begann die Zeit der Umbrüche, auch in der FDP. Dahrendorf gehörte mit Karl-Hermann Flach zu jenen, die Erich Mende und seine Altliberalen aus dem Amt jagten, um die sozialliberale Ära zu begründen. Wobei sozial für den Liberalen Dahrendorf weniger Verteilungs- als Chancengerechtigkeit bedeutete. Insbesondere forderte er schon damals ein Bürgerrecht auf Bildung ein. Nur sah er zu der Zeit Mädchen und Jugendliche vom Land benachteiligt. Gegen Ende seines Lebens ging es um Migranten oder die Kinder aus bildungsfernen Milieus, nachzulesen in der 2010 erschienenen Zukunftsstudie für Nordrhein-Westfalen.

Aber Dahrendorf war ein Mann der Ideen und Worte, nicht der Apparate. Unvergessen seine Debatte mit Studentenführer Rudi Dutschke auf einem Autodach auf dem Freiburger Messplatz 1968 am Rande des damaligen FDP-Bundesparteitages. Dahrendorf hatte sich der Diskussion gestellt, obschon ihm fast alle aus der Parteiführung abgeraten hatten. Sein Mandat als Abgeordneter im Stuttgarter Landtag währte dagegen kurz. Auch in Bonn hielt es ihn nicht lange, weder im Bundestag noch als Staatssekretär der ersten Regierung Brandt. Seine Lust auf aktive Politik endete vorerst mit seiner Zeit als Kommissar für Außenbeziehungen und Außenhandel in der Europäischen Union. Das Amt hatte er von 1970 bis 1974 inne. Aus dieser Zeit stammte wohl auch seine Abneigung gegen die EU-Bürokratie. Europa ohne Brüssel war für ihn eine gern gehegte Vision.
Nicht nur in dieser Hinsicht war er ganz Brite. Die vielen Jahre als Leiter der London School of Economics und Rektor des St. Antonys College in Oxford hatten aus der ohnehin vorhandenen Anlage das Musterbeispiel eines britischen Gentleman wachsen lassen, klassisch konservativ in Kleidung und Auftreten, liberal im Denken, unerschrocken und mit trockenem Humor. Als ihn die Königin adelte und ihn damit auch zum Mitglied des britischen Oberhauses machte - was ihn wieder in die Politik zurückbrachte -, ließ er sich den Titel Lord of Clare Market in the City of Westminister geben. Clare Market ist ein Platz in der Nähe der London School of Economics. Genutzt wird er vor allem als Parkplatz.

London, wo er seit den 1950er Jahren immer wieder lebte, war seine Stadt, noch vor Berlin, wo es ihn vor allem in seinen letzten Jahren wieder verstärkt hinzog, und Köln, wo er mit seiner dritten Frau lebte. In der britischen Hauptstadt und im dortigen Oberhaus atmete er die Tradition und Weltläufigkeit, die ihn aufblühen ließen. Zugleich zog es ihn regelmäßig in den Schwarzwald nach Bonndorf-Holzschlag, wo er fast 50 Jahren ein Haus besaß. Hier tankte er die Bodenständigkeit und Nähe, die der Sozialwissenschaftler für seinen Blick auf die Wirklichkeit brauchte. Dahrendorf hat Glokalisierung - die Symbiose von global und lokal - gelebt, lange bevor dieser Begriff erfunden war.

Nicht nur von hier fand er auch immer wieder den Weg zur Badischen Zeitung. Der Freund von Verleger Christian Hodeige war bald ein väterlicher Freund der Redaktion geworden. Einer, dem man gerne zuhörte, obschon er eigentlich selbst gerne zuhörte, hinsah. Dahrendorf war einer, der lieber lobte als zu kritisieren, der dieser Redaktion nicht die Welt erklären wollte, sondern mit präzisen Fragen half, die eigenen Gedanken zu entwickeln. Und der gerne schrieb. Unzählige Bücher wie sein Essay "Der neue soziale Konflikt" von 1992, in dem er seine sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengefasst hat. Viele Reden, aber auch Leitartikel, Kolumnen und Analysen für Zeitungen und Zeitschriften. Er schrieb für die Wochenzeitung "Die Zeit", war an der Entwicklung der britischen Zeitung "The Intependant" beteiligt, schrieb regelmäßig für die schweizer Zeitung "Finanz und Wirtschaft" und nutze auch darüber hinaus viele Gelegenheiten, seine Gedanken in zahlreichen führenden Zeitungen der Welt zu publizieren. Der Badischen Zeitung blieb er bei aller Weltläufigkeit immer besonders verbunden.

Dabei war sein Rat weltweit gefragt, waren die Anfragen für Vorträge und die Mitarbeit in Kommissionen und Gremien Legion, häuften sich die Ehrungen. Mehr als 25 Ehrendoktortitel wurden ihm verliehen. Dahrendorf genoss dies, auch wenn es ihm gelegentlich über den Kopf wuchs. Ruhestand war für ihn keine Option. So lange er arbeitete, lebte er. Zugleich wusste er das Leben zu genießen. Eigen und selbstbewusst. Und mit britischem Understatement, der liebenswürdigsten Form der Eitelkeit. In seinen Lebenserinnerungen zum Beispiel hat er einen Großteil seiner einzigartigen Karriere schlicht unterschlagen. Wenn es der Rede wert sein sollte, so begründete er dieses Vorgehen, werde vielleicht einmal jemand darüber reden.
Kurz vor seinen Tod hatte man den Eindruck, er wolle ihm durch besondere Emsigkeit noch einmal ein Schnippchen schlagen. Seinen 80. Geburtstag am 1. Mai 2010 hatte er, von der Krankheit schon gezeichnet, inmitten akademischer Freunde in Oxford verbracht. Mit Jürgen Habermas, Fritz Stern, Anthony Giddens, Timothy Garton Ash und anderen diskutieret er dort über die Freiheit. Wenige Tage später war er als Festredner auf Einladung der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung zu deren 60. Geburtstag in Berlin. Am 7. Mai nahm er in Darmstadt den Schader-Preis entgegen. Mit ihm werden Gesellschaftswissenschaftler für ihren Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ausgezeichnet. Es sollte sein letzter öffentlicher Auftritt gewesen sein.

In seiner Dankesrede hatte er noch einmal sein Lebensthema reflektiert: Die Verantwortung des Wissenschaftlers als Grenzgänger zwischen Geist und Tat. Er brachte noch einmal auf den Punkt, was diesen Weltbürger im Laufe seiner 80 Jahre vorangebracht hatte von der Jugend in Opposition zum Nationalsozialismus über das Studium und die Wissenschaft in die Politik und zurück in Forschung, Lehre und Publizistik: Er wollte den Dingen auf den Grund gehen. Und er konnte wie kaum ein anderer einen komplexen Sachverhalt auf seinen wesentlichen Kern reduzieren. Das machte ihn zu einem gefragten Gesprächspartner und Ratgeber. Vor allem aber war er ein Intellektueller, der sich einmischte. In einer Zeit, in der Geist mit Politik eher nichts zu tun haben will, gibt es davon nicht viele in Deutschland, auch wenn Menschen wie er angesichts der tief greifenden gesellschaftlichen Umbrüche zur Orientierungssuche dringend gebraucht werden: Scharfzüngig und direkt, ohne zu verletzen, grenzenlos neugierig und undogmatisch, aber strukturiert und präzise im Denken.

Als Ratgeber wird er nicht nur der Badischen Zeitung fehlen. Als einer, dem es Spaß machte, mit der Redaktion weniger über Gott als über die Welt zu diskutieren, der zuhörte und mit präzisen Fragen half, die eigenen Gedanken zu klären. Als einer, der sich mit Leitartikeln zu Wort meldete. Und als einer, den man einfach anrufen konnte, wenn man einen Rat brauchte, jemand, der einem half, ein Thema zu durchdringen. Dass ihm der Krebs zunehmend die Kraft nahm, hat er durch seinen starken Willen zu kompensieren vermocht. Als er ihm mehr und mehr die Stimme raubte, musste er letztlich klaren Verstandes kapitulieren.


Dahrendorfs Zeitungsrede:
Regionalzeitungen, die prägende Kraft (22.1.2003)

Essay:
Dahrendorf als Journalist

Dossier der Badischen Zeitung:
Trauer um Lord Ralf Dahrendorf (Juni 2009)